9punkt - Die Debattenrundschau - Archiv

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9punkt - Die Debattenrundschau vom 30.04.2024 - Ideen

Im Interview mit Zeit online ärgert sich die Schriftstellerin Mithu Sanyal über die "Sündenbock-Funktion", die ihrer Ansicht nach dem Postkolonialismus seit dem Terroranschlag der Hamas vom 7. Oktober zugeschoben wird. Sie bittet um Differenzierung, etwa wenn Interviewer Ijoma Mangold einwirft, Butler habe die Hamas als Befreiungsbewegung bezeichnet: "In den Debatten um Judith Butler reagieren wir auf Schlüsselworte. Wenn wir Befreiungsbewegung oder Widerstand hören, denken wir, das ist gut, also ist alles, was ich im Namen des Widerstands tue, gut. Nein! Es gibt bewaffneten Widerstand, den ich eindeutig als Terrorismus bezeichnen würde. Hier bin ich übrigens anderer Meinung als Butler, für die der 7. Oktober bewaffneter Widerstand war und nicht Terror. Deshalb habe ich lange darüber nachgedacht, warum ihr diese Unterscheidung so wichtig ist. Weil es ihr um die Intention geht. Paraphrasiert: 'Entweder es gibt eine politische Motivation - dann wäre es Widerstand. Oder es ging am 7. Oktober darum, so viele Juden wie möglich zu töten, weil die Hamas halt so antisemitisch ist - dann wäre es Terrorismus.' Ganz wichtig: Auch mit einer politischen Motivation ist der Anschlag noch immer ein massives Verbrechen! Aber nur wenn es eine politische Motivation gibt, kann es auch eine politische Lösung geben."

Wir tragen die taz-Kolumne von Tania Martini vom Freitag nach - auch weil sie auf einen Artikel hinweist, den wir ebenfalls übersehen hatten. Fassungslos las sie einen Text der deutschen Autorin Eva Ladipo, Großnichte eines Hitler-Generals, die sich im Guardian Sorgen um das Ansehen Deutschlands in der Welt macht: "Ist es die Sorge darüber, dass es ein von Judenhass geprägtes Klima an den Universitäten gibt? Oder darüber, dass die Zahl antisemitischer Straftaten gestiegen ist? Nein, die Verbrechen des Onkel Walter 'fühlen sich gerade jetzt unangenehm relevant an', weil Deutschland ungewollt Fehler wiederhole, 'die schon einmal gemacht wurden', gerade weil es 'an der Seite Israels' stehe. Israelis als die Nazis von heute? Und Nazis erkennen Nazis am besten? 'Die Vergangenheit meiner Familie und Deutschlands lastet schwer auf mir. Und deshalb liegt mir Gaza so am Herzen', so der Titel des Textes, der symptomatisch ist für einen bestimmten pseudoantirassistischen Paternalismus voller Verdrehungen und Blindheiten."

In der FAZ beschreibt Franziska Sittig die Stimmung an amerikanischen Universitäten, die sie als hausgemacht empfindet: "So geschockt ich anfangs auch war, dass Hamas, Hizbullah, PFLP und Islamic Jihad von vielen Studenten als Befreiungs- statt als Terrororganisationen, die sie sind, angesehen werden, umso besser kann ich mittlerweile nachvollziehen, woher diese Ansichten rühren. Ich kann mit Kufija und oft noch Covid-Maske verhüllte Studenten nicht isoliert für ihren Israelhass und in wachsendem Maß auch Hass auf die Vereinigten Staaten verantwortlich machen, wenn signifikante Bestandteile des Kerncurriculums - des interdisziplinären Standard-Literaturkanons der Universitäten - lehren, das gesamte westliche System sei 'oppressive' und jeder, der Teil dieses System ist, mache sich mitschuldig, weshalb ein direkter Angriff auf das System der einzige Ausweg sei." Sittig beschreibt auch einen wesentlichen Unterschied zu den Studentenprotesten '68: "Damals zielte die Besetzung von Universitätsgebäuden und der Druck auf die Universitätsverwaltung nicht darauf ab, für eine Minderheit oder einen gemeinsamen gerechten 'cause' auf Kosten einer anderen Minderheit einzustehen. Heute dagegen werden jüdische und israelische Studenten kollektiv für das Vorgehen Israels im Gazastreifen haftbar gemacht." Ähnlich sieht es Josef Joffe in der NZZ.

Im Interview mit CNN wehrt sich der jüdische Yale-Student Ben Weiss gegen den Vorwurf, die Proteste an amerikanischen Universitäten seien antisemitisch grundiert. "Als Student im vierten Jahr in Yale empfinde ich diese Charakterisierung als zutiefst frustrierend, da sie nicht weiter von der Wahrheit entfernt sein könnte. Auf Schritt und Tritt bin ich auf eine Gemeinschaft von Aktivisten und Organisatoren gestoßen, die gerne zuhört, bereit ist zu lernen und sich für die Einbeziehung jüdischer Stimmen und Perspektiven einsetzt. Als Teil der schwierigen Arbeit, ein pluralistisches Protestumfeld zu schaffen, hat die Koalition beispielsweise jüdische Stimmen bei der kollektiven Entscheidungsfindung über die zu verwendende Sprache angehört und sich schließlich darauf geeinigt, keine Sprechchöre wie 'Es gibt nur eine Lösung: Intifada-Revolution' zu verwenden, die bei einigen jüdischen Studenten ein Gefühl der Unsicherheit hervorrief. Obwohl diese Gesänge auf dem Yale-Campus zu hören waren, wurden sie von den Organisatoren der Proteste im Rahmen des laufenden Dialogs weder genehmigt noch angestimmt."

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Der amerikanische Ethnologe Steven Vertovec hat gerade ein Buch über "Migration und soziale Komplexität" veröffentlicht. Im Zeit-Online-Gespräch erklärt er, weshalb er statt von "Mulitkulturalismus" von "Superdiversität" sprechen will: "Soziale Kategorien wie Ethnie oder kulturelle Zugehörigkeit sind meiner Meinung unzureichend, um die Diversität unserer heutigen Gesellschaften begreifbar zu machen. (…) In vielen unserer Debatten herrscht die Vorstellung vor, dass die Welt in Gruppen unterteilt ist. Gruppismus sozusagen. Das ist die mentale Schablone, die wir über die Welt legen, aber Gruppen sind keine hermetisch verschlossenen, abgegrenzten Einheiten. Kategorien sind porös, sie sind nicht fixiert. Identitäten sind immer mehrdimensional. (…) Immer mehr Menschen gehören mehreren Strömungen gleichzeitig an, was an der wachsenden Verbreitung des Zusatzes trans- erkennbar ist: Transnationalität, Transgender, Transsexualität, in der Soziallinguistik gibt es auch die Transsprache. Vieles ist heute durchlässig und im Fluss."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.04.2024 - Ideen

Buch in der Debatte

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In ihrem Buch "Demokratie und Revolution", das sie zusammen mit dem Zeit-Redakteur Bernd Ulrich verfasst hat, fordert die Historikerin Hedwig Richter eine Revolution von oben, der sich die Bürger freudig unterwerfen sollen - Steaks kämen dann nicht mehr auf den Teller. Sie träume von einer "Volksgemeinschaft" hatte ihr daraufhin Jürgen Kaube vorgeworfen (unsere Resümees). Philipp Krohn empfiehlt in einem neuen Beitrag mehr Pragmatismus - von Dänemark sollen wir lernen: "In der Erdölkrise nach 1973 wurde das Ziel, vom Erdöl unabhängig zu werden, zum Narrativ. Schon sechs Jahre später beschloss Dänemark ein Wärmeversorgungsgesetz, das Kommunen zu einer Wärmeplanung verpflichtete. Viereinhalb Jahrzehnte vor Deutschland. Noch mehr: Der Energieversorger Dansk Naturgas wandelte sich von einem Fossilkonzern zu Ørsted, dem weltgrößten Offshore-Windparkbetreiber. Kopenhagen wurde zur Weltfahrradhauptstadt."

Im Zeit Online-Interview mit Simone Gaul fordert die Neurowissenschaftlerin Maren Urner, dass Politiker mehr ihre Emotionen zeigen, die angeblich wichtiger seien als rationales Nachdenken. "Es geht nicht darum, dass ich in jedem Moment mitteile, dass ich hungrig bin, unglücklich verliebt oder morgen in den Urlaub fahre. Sondern es geht um die versteckten emotionalen Grundlagen unserer Entscheidungen. Darum, da genauer hinzuschauen. Warum habe ich eine gewisse Überzeugung? Warum will ich ein Tempolimit oder ein Frauenwahlrecht? Ich kann nur faktenbasiert darüber reden, wenn ich mir vorher klarmache, ich habe diese und jene Überzeugung und dieses oder jenes Gefühl zu einem Thema. Sich das klarzumachen, zeugt von emotionaler Reife. Der zweite Schritt ist die kommunikative Reife, also über diese Einstellungen und Gefühle auch zu sprechen."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.04.2024 - Ideen

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 Philipp Daum und Marilena Piesker unterhalten sich für Zeit online mit Ingrid Robeyns, Professorin für Ethik der Institutionen an der Universität Utrecht, über ein "Luxusproblem", nämlich über die Frage, wann Reichtum unmoralisch wird. Sie setzt sich für einen Limitarismus ein, also eine Obergrenze für Reichtum: "So wie wir nicht wollen, dass jemand unterhalb der Armutsgrenze lebt, fordert der Limitarismus, dass niemand mehr als einen bestimmten Betrag besitzen sollte." Die Grenze zwischen erlaubtem Reichtum und unerlaubtem extremem Reichtum zieht sie für Westeuropäer bei einer Million Euro (als ethische Obergrenze) bzw. zehn Millionen Euro (als politische Obergrenze). Letztere ist für sie eine "Wohlstandsobergrenze, die unser politisches System, unsere Demokratie, anstreben sollte. Ab einer bestimmten Menge wird Geld nur noch schädlich. Es schadet der Gesellschaft. Zum Beispiel durch politische Einflussnahme. Mit Geld kann man Lobbyisten bezahlen, politische Kandidatinnen unterstützen oder Medien kaufen.(...) Reichtum schadet auch Superreichen selbst. Manche werden sogar süchtig nach Reichtum."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 25.04.2024 - Ideen

Warum ist der Rechtsnationalismus gerade weltweit so erfolgreich, fragt sich in der Zeit Maximilian Probst. Seine Antwort ist recht ungemütlich: "Es ist schlicht und einfach die Tatsache, dass autoritäre Systeme heute mit den liberal-demokratischen ernsthaft konkurrieren können. Und manchmal sogar überlegen wirken, oder schlimmer noch: gelegentlich sogar überlegen sind. Das ist ein gruseliger Satz, gerade in Deutschland, wo die Geschichte davon zu künden scheint, welche Gefahren drohen, wenn man der autoritären Verlockung folgt. Doch könnte es eben auch eine Gefahr sein, ihre Leistungsfähigkeit zu verkennen." Heute könne es jedoch sein, "dass man einem Land wie China sogar ein Stück weit dankbar sein muss, dass es nicht den Weg in die liberale Demokratie gewählt hat. Das beste Beispiel für diesen provozierenden Gedanken betrifft die Klimakrise. Es ist sehr wahrscheinlich, dass das 2-Grad-Ziel (von 1,5 Grad muss man nicht mehr reden) nur deshalb überhaupt noch erreicht werden kann, weil China in den letzten Jahren in rasantem Tempo die Solarindustrie entwickelt und ausgebaut hat."

Der Philosoph Philipp Hübl konstatiert im Welt-Interview mit Anna Schneider einen hohen Grad an Selbstdarstellung in moralischen Debatten, der besonders in der westlichen Welt verbreitet sei und den Debattenraum einschränke: "Das kann man Moralspektakel nennen. Man könnte auch Effekthascherei sagen. Mit Forderungen oder Aussagen, die offensichtlich extrem utopistisch, übertrieben, auch manchmal grundlos sind, möchte man zeigen, dass man zu einer bestimmten moralischen Gruppe gehört. Und das kann jede moralische Gruppe sein, von konservativ bis progressiv. Diese Verlockung ist neu in unserer heutigen Zeit."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 24.04.2024 - Ideen

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Die Historikerin Hedwig Richter und und der Zeit-Hierarch Bernd Ulrich predigen in ihrem Buch "Demokratie und Revolution" dem Volk Verzicht. Es soll zum Beispiel endlich einsehen, dass es kein Fleisch mehr essen darf und sich überhaupt notwendigen Dekreten der Politik freudig unterwerfen. Hedwig Richter hatte diesen Ansatz gegen die "Suppenkaspar-Freiheit" der Unartigen in der FAZ nochmal verfochten (unsere Resümees). Darauf antwortet heute FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube: "Sie träumt, wie alle Anhänger des Volksbegriffs, von einer Gemeinschaft und von einer volonté générale, einem vernünftigen Volkswillen, der sich den Gesetzen beugt, weil er sie selbst erlassen hat. Die Bürgerschaft stimmt den Zumutungen zu, weil sie die Zumutungen als vernünftig erkennt." Auch der von Richter bemühte "Suppenkaspar" leuchtet ihm nicht ein: "Ist Zwangsernährung die gebotene Therapie bei Essstörungen? Hatte denn der Suppenkasper einen 'niedrigen Instinkt'? Ist denn die schwarze Pädagogik, die ihn zu disziplinieren sucht, das letzte Wort der Aufklärung?"

In postkolonialen Studiengängen werden bestimmte Haltungen kultiviert, die nicht unbedingt zu objektiven Ergebnissen führen, fürchten die Ethnologin Susanne Schröter und der Musikwissenschaftler Ulrich Morgenstern in einem gemeinsamen FAZ-Artikel. Die Studenten würden angeleitet, aus einer Position der "Allyship" mit als unterdrückt gelesenen Gruppen heraus Forschung zu machen: "Während empirische Sozialwissenschaft fragen kann, wo, inwieweit und warum gesellschaftliche Übelstände zu verzeichnen sind und welche Faktoren zu ihrer Überwindung beitragen können, setzt aktivistische Wissenschaft diese Nachteile absolut und sich selbst als die rettende Kraft in Szene. Jede Wissenschaft, die Aktivismus einfordert, läuft Gefahr, ihre Glaubwürdigkeit zu verlieren. Implizite oder explizite politische Positionierungen von Hochschulen, Instituten und Lehrveranstaltungen erzeugen zudem einen Konformitätsdruck auf Studenten und Stellenbewerber." Nicht erst seit dem 7. Oktober geht diese Positionierung überdies mit einer Dämonisierung Israels einher, so Schröter und Morgenstern.

In der Welt erklärt der Extremismusforscher Hendrik Hansen ebenfalls, warum die postkoloniale Theorie besonders anfällig für radikale Haltungen ist und warum viele Linke die Hamas nicht als Täter sehen (wollen): "Dieser ideologische Postkolonialismus ist - wie der Antiimperialismus von Lenin - von einem radikalen Dualismus gekennzeichnet. Während Lenin die Welt auf den Kampf zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten reduziert, erfolgt im Postkolonialismus eine Zweiteilung in Unterdrücker und Unterdrückte, wobei die Mechanismen der Unterdrückung nicht mehr primär ökonomisch gedeutet werden, sondern im Bereich von Sprache und Normensetzung gesehen werden. Unterdrückte handeln moralisch gut, Unterdrücker sind moralisch böse. Wenn 'Unterdrückte' - wie im Fall der Hamas - Taten verüben, die auch gewaltorientierte Linksextremisten nicht gut finden, dann ist die Ursache für ihr Handeln dennoch bei den 'Bösen' zu suchen, zum Beispiel den angeblichen 'israelischen Kolonisatoren'. Akademisch orientierte Hamas-Unterstützer wie Judith Butler nennen dies die 'notwendige Kontextualisierung' der Taten der Hamas."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 20.04.2024 - Ideen

Die FAZ bringt zum dreihundertsten Geburtstag Immanuel Kants ein paar Miniaturen ihrer Redakteure zu verschiedenen Aspekten seines Oeuvres. Jürgen Kaube kommt im Editorial auf Kants Empfehlung zurück, selber zu denken. "Hegel hat sich daran mit der Bemerkung gestört, der selbstdenkerisch auf eigene Rechnung gemachte Irrtum sei nicht besser als der von Autoritäten angenommene. Kant sieht das anders. Man hole sich beim Versuch, selbst zu gehen, gewiss oft blaue Flecken, am Ende aber gelinge es doch. Wer sich aber von vornherein fremder Krücken bediene, so darf man ihn verstehen, bleibe stets auf sie angewiesen."

Gustav Seibt ergründet in der SZ Kants Position zur Französischen Revolution. Kant wollte sich seinen "Enthusiasm" trotz allem nicht nehmen lassen, für ihn verkörperte die Revolution die "moralische Anlage des Menschengeschlechts", so Seibt. Kann man daran nach dem finsteren 20. Jahrhundert festhalten? "Kants Position ist mit bloßer Empirie nicht zu widerlegen, dafür ist sie zu umsichtig und vorsichtig ausgestaltet. Man kann sie als Appell der Vernunft verstehen, an die Pflicht, sich die Möglichkeit zum Besseren nicht nehmen zu lassen. Das Entsetzen, das die Verbrechen des 20. Jahrhunderts (und andere in Vergangenheit und Gegenwart) auslösen, ist der düstere Bruder von Kants 'Enthusiasm'. Oder um es in einem Vers des Kant sehr bewundernden Goethe zu sagen: 'Das Schaudern ist der Menschheit bestes Teil.'"

Außerdem unterhält sich in der SZ Jens-Christian Rabe mit dem Kant-Experten Marcus Willaschek. In der taz gedenkt Tim Caspar Boehme. In der NZZ schreibt Otfried Höffe. Zeit online meldet, dass Philosoph Daniel Dennett im Alter von 82 Jahren gestorben ist.
Stichwörter: Kant, Immanuel

9punkt - Die Debattenrundschau vom 18.04.2024 - Ideen

Suppenkasper-Freiheit", die sich in allen Ecken der Politik einniste. Politiker aller Parteien scheinen mittlerweile zu glauben, sie könnten ihren Wählern überhaupt keine Einschränkungen mehr in ihrem Alltagsleben zumuten, kritisiert Richter, die überzeugt ist, dass die Politik den Menschen mehr zutrauen kann: So habe "Im großen SZ-Interview mit Jörg Häntzschel erklärt der Fotograf Wolfgang Tillmans, der schon 2016 eine Plakat-Kampagne gegen den Brexit gestaltete, warum er nun ausgerechnet die SPD Sachsen mit einer 50000 Euro-Spende unterstützt, auch wenn er nicht einhundert Prozent einverstanden mit deren Programm ist: "Meine erste große Spende hätte auch einer anderen Partei zukommen können, aber in Sachsen richtet sich die Hoffnung so einseitig auf die CDU als einziger Alternative zur AfD, dass ich es wichtig fand, die SPD zu unterstützen." Plakative Slogans gegen Rechts findet Tillmanns trotzdem nicht so gut: "Es ist völlig okay, für diese Bundesrepublik Deutschland aufzustehen. Wenn wir so weitermachen, ist dieser Staat wirklich in Gefahr. Es muss ein ganz anderes positives Gefühl von Zusammenarbeit an der Gesellschaft entstehen. Umgekehrt muss aber dieses Ausgrenzen von Menschen aufhören, egal in welche Richtung. Ein Slogan wie 'Ganz Berlin hasst die AfD' ist so unangenehm. Menschen erst mal hassen, das kann nicht sein. Diese Negativität wird von der AfD verbreitet. Sich davon nicht anstecken zu lassen, ist ganz wichtig."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 17.04.2024 - Ideen

Die 1993 geborene Autorin Pauline Voss, die in ihrem neuen Buch mit der Generation Z abrechnet, wirft in der NZZ den "Woken" Traditionsvergessenheit vor: "Die Wokeness ist im Kern ein radikal antikonservatives Projekt: Indem die Conditio humana und die aus ihr resultierenden Fragen verleugnet werden, verlieren sämtliche Traditionen ihre Legitimation. Sie werden nicht länger als bestmögliche Lösungen eines Problems angesehen, die aus einem langen Prozess gesellschaftlicher Aushandlung resultieren, sondern als Produkte einer fehlgeleiteten Wahrnehmung." Voss schreibt dieser Haltung weitreichende politische Konsequenzen zu: "Die Anhänger der Wokeness bewerten die Welt allein nach metaphysischen Kriterien. Der Westen ersetzte seine Vorherrschaft durch metaphysische Selbstgeißelung. Er ließ zu, dass die Idee der Aufklärung als reines Instrument weißer Dominanz uminterpretiert werden konnte. Er akzeptierte, dass der Orient zu einem sozialen Konstrukt des Westens deklariert wurde, ohne gleichzeitig die Werte der Aufklärung zu schützen und Israel vor Angriffen anderer Nahoststaaten zu bewahren. Das Vakuum, das der Westen auf physischer Ebene hinterließ, füllten andere."
Stichwörter: Wokeness

9punkt - Die Debattenrundschau vom 16.04.2024 - Ideen

Alan Posener veröffentlicht auf seinem Blog starke-meinungen.de einen der besten Texte zu den finsteren Diskursformationen, die sich seit dem 7. Oktober (und nicht erst seitdem) aufgebaut haben - es handelt sich um einen Vortrag, den er vor der Gesellschaft für Sicherheitspolitik e.V. gehalten hat. Die Hamas steht für ihn klar in der Kontinuität der Nazis - die Pogrome des 7. Oktober sind die "Fortsetzung des Holocausts" mit anderen Mitteln, die Postkolonialisten die nützlichen Idioten dieser neuen Nazis. Unter anderem analysiert Posener die Losung "Free Palestine from German Guilt!" als eine handgreifliche Verlängerung von Thesen à la Dirk Moses. "Nach dieser Lesart sind die Deutschen schuld an dem Elend der Araber. Der Holocaust habe erst zur Massenauswanderung der Juden aus Europa und also zur Masseneinwanderung der Juden nach Palästina geführt, wodurch erst die Juden demografisch stark genug wurden, sich gegen die Araber zu behaupten und sie sogar 1948 teilweise zu vertreiben. Palästina von deutscher Schuld befreien hieße also konsequent, Palästina von den Juden zu befreien. Die Losung unterstellt aber auch, die Deutschen würden vor lauter schlechtem Gewissen wegen des Genozids an den Juden sich nicht trauen, Israels Genozid an den Palästinensern zu kritisieren. So muss man logischerweise dieses schlechte Gewissen attackieren, damit sich Deutschland einreiht in die Phalanx der Staaten des globalen Südens, die Israel als Apartheid-Staat, als Staat weißer Siedler, als neokolonialistisches Projekt bekämpfen."

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In seinem aktuellen Buch "Epistemic Courage" denkt der amerikanische Philosoph Jonathan Ichikawa über den Einfluss von Skeptizismus auf die Politik nach. Im ZeitOnline-Gespräch erklärt er: "Ich glaube, dass die Überbetonung von Skepsis zu einem greifbaren politischen Problem beiträgt: Wir handeln zu langsam und zu konservativ, weil sich viele Menschen nicht zu einer klaren Meinung in Sachfragen durchringen können. Der Skepsis will ich den Begriff vom 'epistemischen Mut' entgegenhalten." Wie "epistemischer Mut" laut Ichikawa aussieht, erfahren wir im Buch auch: Er schreibt unter anderem, Impfstoffe hätten während der Pandemie viel früher an freiwilligen Probanden getestet werden sollen: "Natürlich ist es eine schwerwiegende Entscheidung, medizinische Versuche durchzuführen, die den Probanden schaden könnten. Aber es ist eben auch eine schwerwiegende Entscheidung, eine Pandemie einfach weiterlaufen zu lassen. Und diesen zweiten Aspekt hat man zu wenig berücksichtigt."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 13.04.2024 - Ideen

Die "per Staatsräson abgestützte Verbotspraxis ist auch eine Selbstbeschädigung", kommentiert Stefan Reinecke in der taz nicht nur die Ausladung von Nancy Fraser: "Faktisch trifft diese Antiantisemitismus-Cancel-Culture auffällig oft linke Jüdinnen wie Breitz, Gessen oder Fraser. Genau jene Medien, die sonst heftig vor links-woker Cancel-Culture warnen, winken diese hier lässig durch. Jürgen Kaube stellt in der FAZ treuherzig fest, mit einer 'Einschränkung der Meinungsfreiheit' habe der Fall Fraser gar nichts zu tun. Auch diese rhetorischen Nebelkerzen können nicht verhüllen, dass sich hier rasant eine Verbotspraxis verfestigt."