05.07.2021. Karin Smirnoff erzählt von einer Horrorfamilie auf einem schwedischen Bauernhof, Martin Lechner erzählt eine Tragödie von "Kleist'schem Format" aus einer psychiatrischen Anstalt, die Dichterin Valzhyna Mort singt Belarus ein melodisches Denkmal und Mark Gevisser folgt der pinken Linie, an der die Kämpfe um sexuelle Selbstbestimmung stattfinden. Dies alles und mehr in unseren besten Büchern des Monats Juli.
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Weitere Anregungen finden Sie in in der
Lyrikkolumne "Tagtigall", dem
"Fotolot", in den
Kolumnen "Wo wir nicht sind" und
"Vorworte", in unseren
Büchern der Saison, den
Notizen zu den jüngsten
Literaturbeilagen und in den älteren
Bücherbriefen.
LiteraturTomas GonzalesDie stachelige Schönheit der WeltErzählungen
Edition 8. 240 Seiten. 21,20 Euro
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Tomas Gonzales studierte Philosophie in
Kolumbien, arbeitete als Barmann in Bogota, betrieb eine Fahrradwerkstatt in Miami, lebte als Übersetzer und Journalist in New York, bevor er schließlich nach Kolumbien zurückkehrte. Ein spannendes Leben also, das sich auch in den 13 für diesen Band ausgewählten Erzählungen widerspiegelt. Der Autor Peter Stamm, der auch an der Übersetzung mitarbeitete, nennt die Atmosphäre der Texte
nüchtern,
düster und "
von innen her leuchtend": Es ist die unantastbare Würde jener Menschen, von denen der Autor erzählt, die da leuchtet, schreibt Manuela Reichart im
Dlf Kultur. Sie begegnet einem demenzkranken Mann und seiner Frau, die jedes Jahr mit ihren Kindern eine gemeinsame Reise zum Meer für ihn inszeniert, oder einem Künstler, der zum trinksüchtigen Stadtstreicher absteigt. Gonzales sollte kein Geheimtipp mehr bleiben, meint sie. Für den
FAZ-Kritiker Jakob Hessing liegt die Kunst des Autors in der
sinnlichen Figurendarstellung, in der starken Bildhaftigkeit und im
epischen Atem auch der kürzeren Texte. Gonzalez' Auseinandersetzung mit dem magischen Realismus in der Literatur seines Landes scheint ihm von Ernsthaftigkeit geprägt.
Martin LechnerDer IrrwegRoman
Residenz Verlag. 272 Seiten. 24 Euro
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Dieser Roman scheint eine
Menge Spaß zu versprechen! Autor Martin Lechner nimmt uns hier an der Seite des Schulabbrechers und Zivis Lars mit in eine psychiatrische Anstalt, in der jener den Leiden der ihm Anvertrauten offenbar etwas zu nah kommt, so dass sich die Grenzen auflösen.
NZZ-Kritiker Paul Jandl amüsiert sich prächtig über diese "
Miniaturen des Aberwitzes" aus Pyromantik, Liebe in der Anstalt, Aufbegehren und
Sinn des Irrsinns. Die mikrokomödiantische Dramaturgie, Lechners Sinn für feine Unterschiede und dessen energische "
quecksilbrige" Sprache machen die Lektüre für Jandl perfekt. Und in der
FAZ meint Oliver Jungen: So komisch und plastisch der Klinikalltag im Text geschildert wird, so zielsicher läuft die Story auf eine
Tragödie von Kleist'
schem Format hinaus. Das Buch ist für diejenigen, "die Freude haben an virtuoser, verspielter Sprache. Man sollte vielleicht aber auch ein Faible haben für düstere,
gebeutelte Charaktere", meint Jörg Petzold bei
fluxfm.de, wo für einige Tage auch noch
Lesungen online stehen.
Karin SmirnoffMein BruderRoman
Hanser Berlin. 336 Seiten. 24 Euro
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Den Auftakt zu einer offenbar sehr spannenden Trilogie macht dieser Debütroman der schwedischen Autorin Karin Smirnoff. Erzählt wird die Geschichte von Jana, die auf den Familienhof im schwedischen Västerbotten zurückkehrt, dort mit den Erinnerungen an den prügelnden Vater und die inzwischen im Pflegeheim lebende bigotte Mutter konfrontiert wird und auf ihren saufenden Zwillingsbruder John trifft. Bei allem
Witz hat es der Roman in sich, warnt uns
Dlf-
Kultur-Kritikerin Anne Kohlick, gebannt zwischen
Faszination und Entsetzen. Fesselnd findet sie auch die Sprache, die auf konventionelle Interpunktion verzichtet - und Gedachtes und Gesagtes ineinander übergehen lässt. In der
FR erliegt auch Katharina Granzin dem
Flow dieses Puzzles aus Rückblenden und Gegenwartsmomenten. Und dank eines mysteriösen Todesfalls kommt auch noch Spannung auf, meint sie. Im
Standard hebt Andrea Heinz die Übersetzung von Ursel Allenstein hervor und freut sich schon jetzt auf die Folgebände.
Fatima DaasDie jüngste TochterRoman
Claasen Verlag. 192 Seiten. 20 Euro
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Wer erleben möchte, wie cool, eindringlich, komplex und leicht sich über
Herkunft,
Identität,
Gender und das Leben als
muslimische Lesbe schreiben lässt, der lese dieses Buch, rät uns Nora Karches im
Dlf. Was soll man da noch hinzufügen? Die als Kind algerischer Eltern in Frankreich geborene Autorin erzählt uns in ihrem Debütroman vom Aufwachsen in der
Pariser Banlieue, von den Konflikten bezüglich der
islamischen Religionszugehörigkeit, Herkunft und ihrer verheimlichten Homosexualität, aber auch von einer nicht glückenden Liebe und Selbstzweifeln. Im
Dlf Kultur staunt Kolja Unger, wie die junge Autorin eine Identitätsschicht nach der anderen aufrollt, in der
Zeit lobt Burkhard Müller, dass sich Daas von der verpflichtenden Bekräftigung ihrer Identitätsgruppen befreit. Vor allem aber bewundern die KritikerInnen die Form und
Sogkraft dieses erstaunlichen Debüts: Jedes Kapitel beginnt mit der gleichen Sprachformel, an die
Suren des Korans erinnernd, der Text entwickelt sich in Folge geradezu "spiralförmig", staunt Unger im
Dlf Kultur. In der
Zeit bewundert Müller den Mix aus
Tradition und Frische. "Fatima Daas gelingt es in pulsierendem Rhythmus und mit
knallenden Sätzen, ein erschütterndes und poetisches Selbstporträt zu schaffen",
schreibt Stella Jaeger in der
Berliner Zeitung.
Valzhyna MortMusik für die Toten und AuferstandenenGedichte
Suhrkamp Verlag. 142 Seiten. 15 Euro
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Als
sprachmächtig und unbequem feiern die KritikerInnen die neuen Gedichte der in den USA lebenden Belarussin Vazhyna Mort.
FAZ-Kritikerin Marie-Luise Knott mag zwar ohnehin die Mischung aus Heiterkeit und Melancholie, Surrealismus und Schonungslosigkeit der Lyrikerin. In ihrem dritten Gedichtband erscheint ihr Mort aber noch eine Spur "radikaler": In der "
eindringlichen Monotonie" des Tons scheint die Gegenwart in Belarus durchzuschimmern, schreibt die Kritikerin, die auch bewundert, wie die Dichterin auch nach einem Jahrhundert des Terrors noch Worte und Bilder der "individuellen Trauer" findet. Besonders spannend findet es Knott, Katharina Narbutovics Übertragungen aus dem Belarussischen mit Uljana Wolfs Übersetzungen aus dem Englischen zu vergleichen. Auch
NZZ-Kritikerin Ilma Rakusa bewundert die Energie und den
sprachlichen Biss, mit der Mort weiterhin die Missstände in ihrer weißrussischen Heimat anprangert, an Krieg, Vertreibung und Tschernobyl gemahnt und alles in rhythmische, beschwörende Verse setzt. Subtilen Klang, die emotional aufgeladenen Sprachbilder und die
Musikalität der Verse, in denen sich Tote und Überlebende begegnen, lobt Christian Wollin in der
Welt. "Das Buch ist ein
melodisches Denkmal für die Menschen, die Weißrussland verloren hat",
schreibt Jennifer Wilson in einer lesenswerten Besprechung im
NewYorker.
SachbuchCengiz AktarDie türkische MalaiseEin kritischer Essay
Kolchis Verlag 2021, 125 Seiten, 15 Euro
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Der türkische Wirtschaftswissenschaftler Cengiz Aktar, inzwischen im griechischen Exil lebend, untersucht in seinem knapp 90 Seiten langen Essay, warum die
Annäherung zwischen Europa und der Türkei, die in den nuller Jahren gute Fortschritte zu machen schien, gescheitert ist. Neben Erdogans Paranoia hat er dafür zwei Erklärungen,
erzählt Christiane Schlötzer in der
SZ: Einmal Nicholas Sarkozy und Angela Merkel, die den anfänglich durchaus vorhandenen Reformeifer Erdogans abrupt beendeten, als sie eine EU-Mitgliedschaft der Türkei ausschlossen. Und zum anderen die
mangelnde Vergangenheitsbewältigung in der Türkei - vom osmanischen Reich bis zum Genozid an den Armeniern - die Modernisierungsbestrebungen nur zusammen mit einem "scharfen Nationalismus" denken konnte, wie Gunnar Köhne im
dlf-
Gespräch über das Buch erklärt. Man wollte und will den verschiedenen Volksgruppen keine eigenen Identitäten zugestehen. Beide Rezensenten haben den Essay mit Gewinn gelesen, doch hätte sich Köhne noch eine Erklärung gewünscht, "wie aus dem hochgelobten Reformer Erdogan ... ein solcher
Despot werden konnte".
Dennis PauschVirtuose NiedertrachtDie Kunst der Beleidigung in der Antike
C.H. Beck Verlag. 223 Seiten. 22 Euro
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Bisher hat in den von uns ausgewerteten Medien nur Uwe Walter dieses Buch für die
FAZ besprochen, dabei scheint Dennis Pauschs Ausflug in die
Arena antiker hate speech nicht nur spannend, sondern durchaus auch komisch zu sein. Wer wusste schon, dass Cicero einen Gegner auch mal als "Du schwarzes Nichts, du Stück Kot, du Schandfleck" beschimpfte? Walter empfiehlt uns das Buch des Altphilologen vor allem als "
interessantes Korrektiv" zu einer rein negativen Sicht auf das Phänomen der Beschimpfung. Anhand "schöner Beispiele" aus dem alten Rom und seiner Rhetorik zeigt ihm der Autor, dass verbale Schmähungen auch als Ausdruck
künstlerischer Freiheit und Antrieb sozialer Umstürze fungieren konnten. Auch Cato und Juvenal haben hier ihren Auftritt, ebenso Plautus, Catull und Horaz, freut sich Walter. Die Beschränkung auf philologische Exempel wirkt auf Walter methodisch schlüssig, den jeweiligen sozialen Kontext hätte der Autor jedoch gern etwas besser ausleuchten dürfen, findet er.
Derek P. Peterson, Richard VokesThe Unseen Archive of Idi AminPrestel Verlag. 160 Seiten. 40 Euro
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Ein Fotobuch - und zwar ein ziemlich besonderes. Auf 300.000 bis 500.000 ist laut
SZ-Rezensent Alex Rühle die Zahl der von
Idi Amin zu verantwortenden Toten zu veranschlagen. Außerdem ließ er 80.000 Afrikaner asiatischer Herkunft aus seinem Land ausweisen. Er war trotzdem ein Liebling der
damaligen postkolonialen Bewegung von Miriam Makeba bis Black Panther Stokely Carmichael, die sich alle mit ihm ablichten ließen. Idi Amin beschäftigte einige Fotografen, um die Herrlichkeit seines Wirkens festzuhalten. Passte ihm ein Foto nicht, konnte das für den Fotografen übel ausgehen. Also haben sie die meisten Fotos
gar nicht veröffentlicht. Einige dieser Fotos sind jetzt hier zu sehen. Der Band bietet nebenbei einen überraschenden Blick auf die afrikanische Geschichte jenseits postkolonialer Klischees.
Mark GevisserDie pinke LinieWeltweite Kämpfe um sexuelle Selbstbestimmung und Geschlechtsidentität
Suhrkamp Verlag. 655 Seiten. 28 Euro
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Als "pinke Linie" bezeichnet der südafrikanische Publizist Mark Gevisser die Konfliktlinie zwischen jenen Ländern, die die Liberalisierung vorantreiben und jenen, die Stimmung gegen Lesben, Schwule und Transpersonen machen, jüngst etwa Ungarn. Angesichts der wieder zunehmenden Repressionen ist Gevissers ebenso reflektierte wie
differenzierte Reportage aber nicht nur hochaktuell, sondern vor allem weit entfernt von jeder "schrillen Polemik", versichert uns Marko Martin im
Dlf-Kultur. Vielmehr erzählt uns der Autor hier mit Empathie und
schriftstellerischem "
Feingefühl" von verschiedenen Schicksalen, einer Transfrau aus Malawi etwa, die aus ihrem Heimatland fliehen musste, von einem lesbischen Paar aus Russland oder jungen Inderinnen abseits traditioneller Geschlechterrollen, fährt Martin fort: Gevissers Überlegungen etwa zum Zusammenhang von finanzieller Lage und identitärer Selbstbestimmung machen das Buch für Martin noch lesenswerter. "
Schön und intensiv" nennt auch
taz-Rezensent Jan Feddersen das Buch, das ihm in berührenden Interviews von der "Verletzlichkeit und Zähigkeit" der beschriebenen Menschen erzählt. Dass die arabischen Länder und der Iran nicht vertreten sind, bedauert Feddersen allerdings. Im
Guardian hebt Colm Toibin die besondere Qualität von Gevissers
scharfsinniger Analyse hervor. Auf YouTube findet sich ein
einstündiger taz-Talk mit dem Autor.
Brad StoneAmazon unaufhaltsamWie Jeff Bezos das mächtigste Unternehmen der Welt erschafft
Ariston Verlag. 544 Seiten. 26 Euro
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Brad Stone hatte bereits 2013 mit
"Der Allesverkäufer" ein erstes Buch über Amazon geschrieben, das den Aufstieg des Onlinebuchhandels von Jeff Bezos zum Internetgiganten beschreibt. Mit seinem neuen Buch legt er jetzt über die Jahre bis 2021 nach. Zum Erfolg der letzten acht Jahre hat nicht zuletzt Amazons virtuelle Sprachassistentin "Alexa" beigetragen, lernt
FAZ-Kritikerin Ulla Fölsing aus dem Buch, das sie mit
Spannung gelesen hat. Überhaupt fand sie den Einblick in den
Expansionsfeldzug Amazons höchst aufschlussreich und detailreich beschrieben - mit Sinn für Faszination und Schrecken gegenüber Bezos und seinem Lebenswerk. Mit seinem Versuch, den Aufstieg Amazons zu erklären, knüpft Stone an sein erstes Buch an,
schreibt Ben Smith in der
New York Times. "Das zweite Buch ist vor allem interessant, weil es versucht zu erklären, wie genau Amazon Geld macht, und einzelne Entscheidungen zu beschreiben, die große Auswirkungen für den Konsumenten haben."
Guardian-Kritiker Charles Kaiser
lernt aus diesem "sehr lesbaren" Buch, warum Bezos so erfolgreich ist, aber auch, warum es nötig sein könnte, das
Kartellrecht für Firmen wie Amazon zu verschärfen.
Michael Lichtwarck-AschhoffRobert Kochs AffeDer grandiose Irrtum des berühmten Seuchenarztes
Hirzel Verlag. 284 Seiten. 24 Euro
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Michael Lichtwarck-Aschoff ist ein ehemaliger Arzt, der heute Romane schreibt. Die Arbeit an "Robert Kochs Affe", einem "
literarischen Sachbuch", wie der Verlag es nennt - hat er schon vor vier Jahren begonnen. Aber dafür ist sein Buch gleich in doppeltem Sinne hochaktuell. Es geht darum, wie Robert Koch Seuchen bekämpfte - und das ist vor dem Hintergrund der
Corona-Pandemie natürlich spannend. Es geht aber auch darum, wie sich der Fortschritt der Wissenschaft mit
Kolonialismus verband - und was für finstere Ideologien dabei im Spiel waren. Der Klappentext des Buchs macht das schon unmissverständlich klar: "Seine Wissenschaft von den Bakterien hat Robert Koch als totalen
Krieg gegen das Unsaubere erfunden. Unsauber ist alles, was fremd ist. Und das unsaubere Fremde ist ansteckend. Ansteckung produziert angesteckte Massen. Die verseuchte Masse macht Aufstand." Robert Koch, dessen Name heute täglich in den Nachrichten genannt wird, hat skrupellose
Experimente mit Afrikanern zur Bekämpfung des Schlafkrankheit gemacht, auch das ein Thema des Buchs. In der
Welt fand Marianna Lieder den Band medizinhistorisch anspruchsvoll, aber stets unterhaltsam - leider gab es bisher erst eine Besprechung in den großen Zeitungen. Eine ausführlichere
Besprechung brachte
literatur-blog.at.