04.04.2016. Guntram Vesper über die sächsische Provinz, Garth Risk Hallberg über die Siebziger in New York, Peter Sloterdijk über Europas Verantwortung und Wolfgang Ullrich über Siegerkunst - dies alles und mehr in den besten Büchern des Monats April.
Willkommen zu den besten Büchern des Monats! Sie wissen ja: Wenn Sie Ihre Bücher über den
Perlentaucher bei
buecher.de bestellen, ist das nicht nur bequem für Sie, sondern auch hilfreich für den
Perlentaucher, der eine Provision bekommt.
Den Bücherbrief in seiner vollen Pracht können Sie auch per
E-Mail betrachten. Dazu müssen Sie sich
hier anmelden.
Weiterempfehlen können Sie ihn natürlich auch.
Weitere Anregungen finden Sie in unseren
Notizen zu den aktuellen
Literaturbeilagen, der
Krimikolumne "Mord und Ratschlag", in
Arno Widmanns "Vom Nachttisch geräumt", der
Lyrikkolumne "Tagtigall", den
Leseproben in
Vorgeblättert und in den älteren
Bücherbriefen.
LiteraturGuntram Vesper FrohburgRoman
Schöffling und Co. Verlag 2016, 1008 Seiten, 34 Euro
Einhellig bejubelt die Kritik sowohl "Frohburg" von Guntram Vesper als auch die Jury-Entscheidung, den monumentalen Roman mit dem diesjährigen
Preis der Leipziger Buchmesse auszuzeichnen. Ergriffen und beeindruckt zeigen sich die Rezensenten von der ausschweifenden Erzähllust in diesem Familienbilderbogen der vierziger und fünfziger Jahre aus der
sächsischen Provinz. Nicht nur wegen seiner tausend Seiten
ist es für Andreas Platthaus (
FAZ) "das gewichtigste Buch dieser Tage", ein einziger Bewusstseinsstrom,
assoziativ,
anekdotisch,
nichtlinear, wie Helmut Böttiger in der
SZ schreibt, beziehungsweise ein "Landmeer aus Text", wie es Katrin Hillgruber im
Tagesspiegel nennt. Wiebke Porombka (
Zeit) und Rainer Moritz (
NZZ) vermissen dabei bisweilen Stringenz, werden aber doch immer wieder vom
Sog der Erzählung mitgerissen. Richard Kämmerlings
erklärt in der
Welt: "Wer Sachsen verstehen will, der lese dieses Buch." Für die
FR hat Claus-Jürgen Göpfert den Autor
besucht.
Garth Risk Hallberg City on Fire Roman
S. Fischer Verlag 2016, 1080 Seiten, 25 Euro
An große Epiker wie Dickens und Proust fühlen sich die Rezensenten bei der Lektüre von Garth Risk Hallbergs
tausendseitigem Roman "City on Fire" erinnert, der sie ins New York der Siebzigerjahre entführt, wo sie einer ersten Finanzkrise ebenso beiwohnen wie dem
legendären Stromausfall vom 13. Juni 1977. Dabei weiß der Autor Innensichten und Außensichten auf die Figuren und ihre Stadt ebenso brillant zu verbinden, wie er die großen europäischen Romane des 19. Jahrhunderts mit populären amerikanischen TV-Serien verknüpft, lobt Fritz Göttler in der
SZ und attestiert Hallberg "
halluzinatorischen Detailfetischismus". "Hallberg ist ein Erzähler der vielen Stimmen",
schreibt Tobias Rüther nicht minder begeistert in der
FAZ am Sonntag: "Er kann, je nach Figur, aufgeblasene Worte durch seine Sätze treiben lassen, dann aber, im nächsten Kapitel, kleine Wahrheiten einfach nur so hinwerfen." Verhaltener
äußert sich Fabian Wolff im
DRadioKultur: für ihn ist das Buch "eine
nervöse Sammlung vieler Kurzgeschichten und Prosaskizzen, die durch einen behäbigen narrativen Rahmen zusammengehalten werden". Für die
Welt hat sich Hannes Stein mit dem Autor
getroffen.
Anna-Katharina Hahn Das Kleid meiner Mutter Roman
Suhrkamp Verlag 2016, 311 Seiten, 21,95 Euro
Ein Porträt der verlorenen jungen Generation in
Südeuropa hat Anna-Katharina Hahn mit ihrem jüngsten Roman "Das Kleid meiner Mutter" vorgelegt, vermischt mit Traumhaftem, mit Intertextualitäten, mit Motiven aus dem deutschen Kunstmärchen und nicht zuletzt mit einer gehörigen Portion an
romantischer Ironie, fasst Helmut Böttiger in der
SZ äußerst angetan zusammen. In der
FAZ staunt Andreas Platthaus über die gelungene Balance aus Kolportage und Thesenroman, über die
bolañeske Genauigkeit, Detailliertheit und Wendigkeit, mit der die Autorin die Geschichte um eine junge Frau im Madrid des
Krisenjahres 2012 konstruiert. Und in der
Welt meint Elmar Krekeler bei der Lektüre den "Höllenspaß" der Autorin zu spüren, "ihrem
Anspielungstrieb freien Lauf zu lassen. Alles hier hat irgendwie Bedeutung. Oder eben auch nicht." Auf
Zeit Online ist eine Videolesung eines Ausschnitts aus dem Roman
zu sehen.
Deborah Feldman UnorthodoxSecession Verlag 2016, 320 Seiten, 22 Euro
Vom Aufwachsen in einer rigiden jüdischen Gemeinschaft ohne Fernsehen und Zeitungen, aber mit arrangierten Ehen und absurden Regeln, erzählt Deborah Feldman in "Unorthodox" von ihrer
allmählichen Entfremdung und dem Ausstieg aus der Gemeinde. Die ultraorthodoxe chassidische Sekte der
Satmarer in Williamsburg im New Yorker Stadtteil Brooklyn lebt so abgeschirmt, dass die Autorin erst Jahre später erfuhr, was sich am 11. September 2001 nur weniger Kilometer entfernt zugetragen hat. Als einfühlsam, aber niemals peinlich, dabei "von einer
beschwingten Lakonie durchzogen" und nicht zuletzt von Christian Ruzicska hervorragend übersetzt
lobt Thorsten Schmitz das Buch in der
SZ. Eine besondere Pointe sieht er darin, dass die Autorin mittlerweile in einem muslimisch geprägten Viertel lebt: in Neukölln. "'Unorthodox' zeigt, wie notwendig die
Stärkung von Frauenrechten selbst dort ist, wo man sie längst als selbstverständlich nimmt",
meint Sylvia Margret Steinitz im
Stern.
Senthuran Varatharajah Vor der Zunahme der Zeichen Roman
S. Fischer Verlag 2016, 256 Seiten, 19,99 Euro
Im Getöses der aktuellen
Flüchtlingsdebatte ist Senthuran Varatharajahs Debütroman "Vor der Zunahme der Zeichen" ein leiser, aber umso wichtigerer Beitrag, finden die Kritier. Das Buch geht zurück auf den zwanzigseitigen Text, mit dem der Autor 2014 beim Bachmann-Wettbewerb den 3sat-Preis gewann: ein
Facebook-Chat zwischen einem Tamilen und einer Kosovarin über ihre Erfahrungen mit
Vertreibung,
Migration,
Fremdheit und
Sprache. Dabei zieht sich der Autor keineswegs auf die Position migrantischen Schreibens zurück, wie Dirk Knipphals in der
taz hervorhebt: Nicht die Behauptung von Fremdheit, sondern die Dekonstruktion der vermeintlich klar trennbaren Sphären "von Eigenem und Fremden" stehe im Mittelpunkt. Als ein Debüt "von enormer gedanklicher Konsequenz und einer
sprachlichen Radikalität, die selten geworden ist in der deutschen Gegenwartsliteratur",
preist Varatharajahs Klagenfurter Laudatorin Maike Feßmann den Roman in der
SZ, und im
Tagesspiegel zeigt sich Giacomo Maihofer schwer beeindruckt davon, wie der Autor "auf kühne wie auch reflektierte Weise mit seinem sehr persönlichen Sprachzugang spielt".
SachbuchPeter Sloterdijk Was geschah im 20. Jahrhundert? Unterwegs zu einer Kritik der extremistischen Vernunft
Suhrkamp Verlag 2016, 348 Seiten, 26,95 Euro
Peter Sloterdijk wurde nach einigen kritischen bis zweifelhaften Äußerungen zu Angela Merkels
Flüchtlingspolitik von schnell denkenden Geistesbürokraten gleich in die rechte Ecke gestellt. Geostratege
Herfried Münkler erkannte gar auf "verkorkstes Denken" und erklärte, dieser Typus Intellektueller habe nunmehr abgedankt (mehr zur Debatte
hier). Die Reaktionen auf Sloterdijks neues Buch - eine Essaysammlung - fallen dagegen viel differenzierter und offener aus. Sloterdijk argumentiere hier mitunter (wenn auch nicht durchweg)
deutlich sensibler, politisch weit weniger anrüchig,
meint Ingo Arend in der
taz. Ebenso beinahe irritiert
äußert sich in der
FR Dirk Pilz, der sich wundert, Sloterdijk von
Europas Veranwortung reden zu hören. Ohnehin viel gelassener
sieht es Gustav Seibt in der
SZ, der sich am Sprach- und Begriffswitz Sloterdijks freut und nicht immer alles gleich auf politische Korrektheit prüft. Und in der
FAZ schließlich
besprach Andreas Rödder, Autor des viel beachteten
Buchs "21.0 - Eine kurze Geschichte der Gegenwart", den neuen Sloterdijk mit Skepsis und Bewunderung und stimmte in Sloterdijks Warnungen vor einem
ökologischen Katastrophendenken ein.
Wolfgang Ullrich Siegerkunst Neuer Adel, teure Lust
Klaus Wagenbach Verlag 2016, 160 Seiten, 16,90 Euro
Da fast jeder im Kunstbetrieb auch aus Interessen heraus agiert - auch Journalisten -, ist es nicht immer einfach, mal einen freien Blick aufs Geschehen zu gewinnen. Wolfgang Ullrich legt mit "Siegerkunst" eine kritische Beschreibung der gegenwärtigen Szenerie vor, in der er besonders die sehr hochpreisigen "
Siegerkünstler" und ihre Auftraggeber,
die Sammler, in den Blick nimmt. Das Museum ist nicht mehr der Hauptbezugspunkt dieser Kunst. "Man darf jetzt auch nicht dem naheliegenden Schluss verfallen, die hohen Preise, die für einzelne Werke gezahlt werden, als Indikator für eine besondere Qualität anzusehen... Aus meiner Sicht sind diese Preise
repräsentativer Natur", sagt Ullrich im
Gespräch mit Wolfram Wessels vom
SWR. Der Sammler spiegelt sich im Preis für ein möglichst trashiges Riesenwerk, der Künstler spiegelt sich darin, dass er den Sammler mit diesem - womöglich kapitalismuskritischen - Riesenwerk eine solche Summe abtrotzte: Beide sind Sieger. Die Künstler beziehen sich zwar noch auf die Diskurse der Moderne, so Ullrich, sind aber im Grunde
Dienstleister eines neuen Feudalismus. Mark Siemons stimmt in der
FAS weitgehend zu, stört sich aber daran, dass Ullrich auch moralische Fragen an Künstler stelle. Brigitte Werneburg vermerkt in der
taz besonders, dass viele der besprochenen Künstler Ullrich keine Abbildungsgenehmigung für ihre Werke erteilten -
Urheberrecht wird so zum
Zensurinstrument. Parallel dazu sollte man
"Das Kunstmuseum" von
Walter Grasskamp lesen, der beschreibt, wie überfordert Museen heutzutage mit der Präsentation und Erhaltung schnell alternder Avantgardekunst sind.
Robert Darnton Die ZensorenWie staatliche Kontrolle die Literatur beeinflusst hat
Siedler Verlag 2016, 368 Seiten, 24,99 Euro
Mit seiner Studie "Die Zensoren" räumt der amerikanische Historiker Robert Darnton mit dem Bild des Zensors als systemtreuer, ignoranter Bürokrat auf. Anhand von Beispielen aus dem vorrevolutionären Frankreich, aus Indien zur Zeit der Kolonialherrschaft und aus der DDR arbeitet der Autor heraus, dass Zensoren sich eher als
Garanten hochwertiger Literatur verstanden denn als staatliche Büttel und dass die größte Wirksamkeit der Zensur darin bestand, die Autoren sozusagen
von allein zu linientreuen Texten zu bringen, fasst Helmut Mayer in der
FAZ angeregt zusammen. Dabei lässt Darnton jedoch nicht außer Acht, dass die Zensoren stets die Macht hatten, Karrieren und
Lebensentwürfe zu zerstören, wie Michael André in
Getidian hervorhebt. Sehr positiv wurde das Buch auch in der angloamerikanischen Presse aufgenommen, etwa in der
New York Times, in der
Washington Post und im
Telegraph.
James Rhodes Der Klang der Wut Wie die Musik mich am Leben hielt
Nagel und Kimche Verlag 2016, 320 Seiten, 22,90 Euro
Diese Autobiografie scheint schon ein recht spezielles Buch zu sein! Eine recht wüste Lektüre, manchmal
eindeutig abstoßend. Eine Seite, auf der das Wort "Scheiße" nicht vorkommt, hat Rezensent Wolfram Goertz in der
Zeit nicht gefunden. Aber er konnte das Buch dennoch nicht aus der Hand legen. Zugegeben, die Fäkalsprache stört ihn, aber er erkennt auch die Wut, die der
Pianist und Autor James Rhodes damit herausschreien will. Rhodes, heute ein bekannte Pianist, erzählt von der Erfahrung und dem Trauma des
Kindesmissbrauchs am britischen Internat. Ganz zu bewältigen ist so ein Trauma nicht, so Goertz, und doch gab es ein Weg, damit umzugehen: Das Buch wäre nicht komplett, wenn Rhodes nicht auch die kathartische Wirkung der Musik besingen würde. Auch
das Üben, die Disziplinierung auf dem Weg zu dieser Musik, haben Rhodes geholfen, so Goertz. Ähnlich beeindruckt und letztlich positiv schreibt Reinhard Brembeck in der
SZ.
Jörg Magenau Princeton 66Die abenteuerliche Reise der Gruppe 47
Klett-Cotta Verlag 2016, 223 Seiten, 19,95 Euro
Legendär ist die
Princeton-Reise der Gruppe 47 im April 1966 nicht zuletzt wegen der "Beschreibungsimpotenz", die der bis dahin kaum bekannte Peter Handke bei seinen Kollegen diagnostizierte. In "Princeton 66" rekonstruiert Jörg Magenau das Schriftstellertreffen so präzise und anschaulich, als sei er selbst dabei gewesen, findet Thomas Steinfeld in der
SZ und staunt, wie der Autor Kulturgeschichte und szenische Beschreibung ineinanderfließen und ein äußerst realistisches Gruppenbild entstehen lässt, das nicht zuletzt interessante Einblicke in den von
Intrigen und Selbstbezogenheit geprägten Autoren-Klüngel gewährt. "Was für ein Sauhaufen", meint dazu
Thomas Glavinic im
Spiegel nach der Lektüre dieses "klugen,
vergnüglich zu lesenden Buches". Als eine "konzise Mischung aus Anekdoten und Kontexten"
beschreibt Marc Reichwein "Princeton 66" in der
Welt, und für Lothar Struck (
Glanz & Elend) ist es "ein leichtes, aber gleichzeitig anspruchsvolles Buch eines kenntnisreichen wie leidenschaftlichen
Lese- und Ohrenzeugen". Im
Freitag ist ein Vorabdruck
zu lesen.