Magazinrundschau - Archiv

The New Yorker

789 Presseschau-Absätze - Seite 2 von 79

Magazinrundschau vom 06.02.2024 - New Yorker

In Ian Burumas aktuellem Buch "Spinoza: Freedom's Messiah" ist Baruch Spinoza mit seiner in der frühen Neuzeit radikalen Idee der libertas philosophandi, einem ganz und gar freien Denken, der Philosoph der Stunde, schreibt Adam Kirsch. Spinoza wurde einst wegen seiner als häretisch angesehenen Überzeugungen und Vorstellungen von Gott aus der Amsterdamer jüdischen Gemeinde ausgeschlossen: "Spinoza insistiert auf der Gedankenfreiheit, weil für ihn ein tiefes Verstehen der Schlüssel zum Glücklichsein ist. Wenn religiöse Autoritäten den Menschen vorschreiben, was sie glauben sollen, erschweren sie es, zu einer korrekten Auffassung von Gott zu kommen und blockieren so den Weg zur Seligkeit. Spinoza hat sich für eine demokratische Regierung eingesetzt, weil er es für wahrscheinlicher als in einer Monarchie oder Aristokratie hielt, dass sie die libertas philosophandi erhält und so Menschen ermöglicht, glücklich zu werden. Wie er in seinem 'Tractatus' schreibt: 'Die Basis und das Ziel einer Demokratie ist es, das irrationale Verlangen zu vermeiden, und die Menschheit so weit wie möglich unter die Kontrolle der Vernunft zu bringen, sodass sie in Frieden und Harmonie leben kann.' Das ist offensichtlich keine Beschreibung unserer heutigen Gesellschaft. Die liberale Demokratie, wie wir sie kennen, beruht auf einer gewissen Annahme über Gleichberechtigung: Wenn alle Menschen gleich sind, hat niemand ein Monopol auf die Wahrheit oder Weisheit, also hat auch niemand das Recht, anderen ohne ihre Zustimmung etwas vorzuschreiben. So ist die Demokratie ein Seiltanz der dauernden Meinungsverschiedenheiten, in dem Individuen und Gruppen um eine Art akzeptablen Konsens ringen. So hat Spinoza nicht über Freiheit gedacht. Er hat angenommen, dass es eine Wahrheit gibt, die er versteht und die meisten anderen nicht, und seine Erfahrungen mit Religion und Politik haben ihm keine Illusionen bezüglich der Weisheit der Mehrheit gelassen (…) Wenn wir uns, wie Buruma warnt, in eine Ära begeben, in der die 'Gedankenfreiheit von säkularen Theologien bedroht wird', könnte Spinoza das Vorbild sein, das wir brauchen: Ein Denker, der die ungeheuerlichsten Wahrheiten ausspricht, die er kennt, und trotzdem im eigenen Bett gestorben ist."

Calvin Tomkins porträtiert Thelma Golden, Direktorin des Studio Museums in Harlem, die gegen alle Widerstände schon als junge Kuratorin am Whitney Museum of American Art Kunst schwarzer Künstler in den 1990er Jahren sichtbar machte: "Golden erkannte, dass die Kunstgeschichte, die sie bis dahin gelernt hatte, unvollständig war, weil die Kunst von Schwarzen in der ihr zugewiesenen Lektüre meist fehlte. Als sie einem ihrer Kunstgeschichtsprofessoren am Smith College sagte, sie wolle über schwarze Kunst schreiben, zog er einen Katalog mit schwarzen Gemälden von Frank Stella hervor. (Sie stellte klar, dass sie schwarze Künstler meinte, und er riet ihr davon ab.) In der akademischen Welt lehrte kaum jemand Golden etwas über schwarze Kunst, aber sie war damit aufgewachsen. Mehrere Freunde ihrer Eltern waren ernsthafte Sammler, und sie hatte in der schwarzen Presse über Faith Ringgold, Charles White und andere Künstler gelesen. In der Smith-Bibliothek fand sie den Katalog 'Two Centuries of Black American Art', David Driskells bahnbrechende Ausstellung von 1976 im Los Angeles County Museum of Art. Die Bibliothek verfügte auch über ein Buch von 1973 mit dem Titel "The Afro-American Artist: A Search for Identity' von Elsa Honig Fine. 'Ich habe jeden Künstler in diesen Büchern studiert', erzählte mir Golden. 'Ich habe sie mir sozusagen eingeprägt.' Einige der frühesten Künstler im Driskell-Katalog - Patrick Reason, Robert S. Duncanson und andere Porträtisten und Landschaftsmaler des 19. Jahrhunderts - waren eindeutig von Thomas Cole und anderen weißen Künstlern der Romantik beeinflusst. Henry Ossawa Tanner (1859-1937), der erste weithin bekannte afroamerikanische Maler, studierte bei Thomas Eakins und malte Szenen, die Schwarze darstellten. 1891 ging er jedoch nach Paris, wo er für den Rest seines Lebens blieb und praktisch ein europäischer Künstler wurde. Spätere Generationen wie Aaron Douglas, Augusta Savage, Charles Alston, Selma Burke und Norman Lewis machten in Amerika trotz aller Widrigkeiten eine Karriere als Künstler. (Burkes Porträt von Franklin Delano Roosevelt gilt als Vorlage für sein Profil auf dem Dime). Alle diese Künstler waren Teil der Harlem Renaissance in den Zwanziger- und Dreißigerjahren, einer Explosion von Innovationen in der Kunst, die Harlem als kreatives Zentrum der schwarzen Kultur etablierte. Schwarze Musiker dieser Zeit - Louis Armstrong, Eubie Blake, Duke Ellington - erreichten zwar ein weißes Publikum, aber es sollte noch siebzig Jahre dauern, bis das weiße Kunstestablishment ernsthaft zur Kenntnis nahm, was schwarze Künstler taten."

Weitere Artikel: Maggie Shannon porträtiert amerikanische Frauen, die in eine Klinik nach Maryland reisen, um einen Schwangerschaftsabbruch vorzunehmen. Alexandra Schwartz blickt auf die Geschichte der rächenden Frau in der Literatur.

Magazinrundschau vom 30.01.2024 - New Yorker

Masha Gessen, deren Essay über die ihrer Meinung nach verfehlte Vergangenheitsbewältigung in Deutschland, aber auch Polen und der Ukraine in unguter Erinnerung ist, liefert nun eine ausführliche Reportage über den Kriegsalltag in der Ukraine, die immerhin den Vorteil hat, nüchtern bei den Fakten zu bleiben. Viel Hoffnung scheint Gessen der Ukraine nicht mehr zu geben. Um die Demokratie zu verteidigen, muss sie die Demokratie zumindest suspendieren, beobachtet sie. Die geplanten Präsidentschaftswahlen sind ausgesetzt, auch mit Rücksicht auf all die Ukrainer, die im Krieg sind, das Land verlassen haben oder interne Flüchtlinge sind. Und doch: Selenski hatte als ein Kandidat gegen das Establishment begonnen, aber nun ähnele er jenen Funktionären, die er verjagen wollen, verschanzt in eine Festung. Der Krieg verstetigt sich. Die Spannungen in der Bevölkerung verschärfen sich. "Diejenigen, die im Land geblieben sind, haben oft wenig Geduld mit den Ukrainern im Ausland. 'Ich bin sehr wütend auf Frauen, die gehen und ihre Männer hier lassen', sagt Kateryna Ukraintseva (eine Aktivistin aus Butscha). "Entweder man ist eine Familie oder nicht. Man sollte die Dinge gemeinsam durchstehen.' Die Scheidungsraten sind stark gestiegen, und es ist eine Binsenweisheit, dass viele Frauen, die nach Westeuropa gegangen sind, sich ein neues Leben aufgebaut haben. 'Jeder Mann, den ich kenne, der seine Frau und seine Kinder ins Ausland geschickt hat, ist inzwischen geschieden', sagt mir der Soziologe Denys Kobzin. 'Die Kluft zwischen denen, die im Krieg gekämpft haben, und den anderen wird immer größer.' Serhiy Leshchenko, Berater von Zelensky, stimmt zu. 'Es ist an der Zeit, dass jene, die sich als Ukrainer sehen, zurückkommen', sagt er. 'Die Schulen in Kiew sind geöffnet - sie haben alle Luftschutzbunker. Freunde von mir, die mit immer neuen Ausreden kommen, sind keine Freunde mehr.'"

Was hält die Zukunft des Internets bereit, fragt sich Akash Kapur. Als Projekt der ultimativen Freiheit gedacht, muss es sich jetzt angesichts der wachsenden Bedrohung durch die Techgiganten fragen, ob Regierungskontrollen mehr schaden oder nutzen. Indien versucht mit der Plattform India Stack einen Mittelweg: "Auf einem grundlegenden Level war das Programm eine Bemühung, so etwas wie Sozialversicherungsnummern zu schaffen - keine ganz einfach Leistung für ein so großes Land wie Indien, aber an sich nicht wirklich revolutionär. Unter der Leitung des Tech-Milliardärs Nilekani hat die Plattform sich gegen die öffentliche Skepsis durchgesetzt, gegen bürokratische Lähmungen und gesetzliche Hürden, und 1,4 Milliarden Bürger registriert. Diese verfügen nun über eine Identitätsnummer aus zwölf Ziffern, die als Aadhaar (Hindu für Grundlage) bekannt ist und mit biometrischen Daten wie Irisscans und Fingerabdrücken gefüttert ist. Die wahre Errungenschaft Nilekanis ist es aber, die ID-Nummern als Grundlage einer integrierten digitalen Ökologie ('the stack') zu nutzen. Sie besteht aus staatlich ermöglichten Modulen (sie werden gemeinhin als digital public infrastructure oder DPI bezeichnet), die es den Bürgern erlauben, Online-Bezahlvorgänge durchzuführen, Sozialleistungen zu beziehen, Bankgeschäfte zu tätigen und offizielle Dokumente zu hinterlegen und bescheinigen zu lassen (zum Beispiel Covid-Impfdokumente). So baut die Regierung das, was die World Bank als 'ausloten' einer kontrollierteren - und vielleicht weniger toxischen - Version des Internets versteht, mit Raum für private Programmierer, die, darauf aufbauend, neue Plattformen und Services entwickeln." Ob dadurch nicht auch eine neue Möglichkeit staatlicher Überwachung geschaffen wird, fragt sich dabei nicht nur Kapur. Sicher ist nur der stetige Wandel: "Das Internet bleibt ein Work in Progress. Aber es gibt Gründe, davon auszugehen, dass seine Zukunft von einem ganz anderen Standpunkt aus geschrieben wird als seine Vergangenheit."

Weiteres: John Seabrook fragt sich, wie KI der Musikindustrie nutzen wird. Merve Emre stellt die Naturphilosophin, Autobiografin und Romanautorin Margaret Cavendish (1623-73) vor. Alex Ross hört die Oper "Chornobyldorf" von Roman Grygoriv und Ilia Razumeiko.

Magazinrundschau vom 23.01.2024 - New Yorker

Für den New Yorker versucht Rachel Syme zu ergründen, warum sich die Filme der Regisseurin Sofia Coppola gerade bei der Generation Tiktok so großer Beliebtheit erfreuen: "Coppolas Filme sind opulent, aber auch ein bisschen steril. Eines ihrer visuellen Markenzeichen ist die aus dem Fenster in die Ferne schauende Protagonistin, abgeschnitten von der restlichen Welt. 'Jeder weiß, dass ich dem Thema der eingeschlossenen Frau nicht widerstehen kann', sagt sie. Aber auch wenn ihre weiblichen Charaktere eingeschlossen sind, sie erreichen durch ihre stilvoll gestalteten Geschichten doch eine Art von Selbstbestimmtheit. Kein anderer Filmemacher hat die abgekapselte Atmosphäre der weiblichen Teenager-Zeit und die Ausdruckskraft ihrer Äußerlichkeiten so präzise abgebildet. Sie ist eine Meisterin der Unordentliches-Zimmer-Szenerie: Haufenweise Kleidung und unpraktische Schuhe, mit Postern übersäte Wände, Kommoden voller Parfümflakons und Porzellanfiguren. (…) Manchen Kritikern jedoch scheinen Coppolas Filme mehr auf den äußeren Eindruck als auf den Inhalt zu achten und zudem zu nah dran zu sein an den Privilegien, von denen sie handeln, als dass sie als distanzierte Kritik verstanden werden könnten. Vor ein paar Monaten hat Coppola mir eine Email geschickt, unaufgefordert, in der sie sich mit einer Sache auseinandersetzt, die ihr in den 25 Jahren ihrer Karriere immer wieder vorgeworfen wird: 'Ich verstehe nicht, wieso der Blick auf Oberflächlichkeiten einen oberflächlich macht?!'"

Emily Mason, Velvet Masonry, 1978. Galerie Miles McEnery


Warum wurde Emily Mason so lange übersehen, fragt sich Jackson Arn anlässlich der Solo-Ausstellung "The Thunder Hurried Slow" der 2019 verstorbenen Malerin in der New Yorker Galerie Miles McEnery. Sie war vielleicht nicht sehr innovativ und als Person total unneurotisch. Aber Farbe konnte sie! "Sie bereitete sie in Katzenfutterdosen zu, rührte und verdünnte sie, bis sie bereit waren, über die Leinwand gegossen und mit einem Pinsel oder manchmal auch einem T-Shirt oder einem Finger aufgetragen zu werden. Im besten Fall wirken sie überraschend und unvermeidlich, im schlechtesten Fall sind sie einfach nur sehr, sehr schön anzusehen. Das früheste Werk in 'The Thunder Hurried Slow' wurde 1968 fertiggestellt, das jüngste 1979, und die ausgestellten Schimmel- und Senftöne haben mehr als nur ein bisschen was von den Siebzigern. Dem Ausstellungskatalog habe ich entnommen, dass Mason die Höhlenmalereien in Lascaux mit Anfang zwanzig besuchte; dieses Detail scheint fast zu naheliegend für eine Künstlerin, die die Farbe gleichzeitig alt und lebendig aussehen lässt. Es ist eine seltene Kunstausstellung, die sowohl Stagflation als auch das Prähistorische heraufbeschwört, aber Masons Arbeit inspiriert zu dieser Art von freier Assoziation. Man kann ihre Farben nicht anstarren, ohne ein Zucken des Wiedererkennens zu spüren - beim Betrachten ihrer Türkis- und Terrakottatöne fühlte ich mich so sehr wie schon lange nicht mehr als gebürtiger Südwestler - und man kann nicht weiter starren, ohne dass diese anfänglichen Eindrücke wieder verschwinden. Manchmal habe ich den Eindruck, dass die Farbe für Mason eine Form des Geschichtenerzählens war: Ein Pink wirkt wie eine Wendung der Handlung, ein Orange wie ein unverblümtes Ende."

Weiteres: Evan Osnos denkt über das Phänomen "Elite" nach, unter dem jeder etwas anderes versteht. Anthony Lane sah im Kino Lila Aviles' Familiendrama "Totem".

Magazinrundschau vom 16.01.2024 - New Yorker

Wie geht es mit Israel weiter, fragt sich David Remnick, der seit dem 7. Oktober mehrfach in das Land gereist ist und mit vielen Parlamentariern, Intellektuellen und Militärs über die Hamas, mögliche Lösungen des Gazakonflikts und vor allem über Regierungsoberhaupt Benjamin Netanjahu gesprochen hat, der seit 2009 fast durchgängig an der Macht ist. Auch, wenn die Zustimmung zu ihm in der Bevölkerung schwindet, sollte man ihn nicht vorzeitig abschreiben, erfährt Remnick: "Wenn der Krieg einen Gang runterschaltet und weniger dynamische Ebene erreicht, werden tausende Reservisten, die in den Protesten zur Justizreform aktiv waren und jetzt in Gaza kämpfen, an Demonstrationen gegen die Regierung teilnehmen. 'Sie werden nach Hause kommen, duschen und dann auf die Straßen gehen', vermutet der frühere Ministerpräsident Yair Lapid. 'Es sind gute, hart kämpfende Israelis, die aber höllisch wütend sind auf Netanjahu und die Bande an Verrückten, mit der er sich umgibt.' Fast alle meine Quellen fügen hinzu, dass es, auch wenn Netanjahu in handfesten politischen Schwierigkeiten steckt und ein Misstrauensvotum oder Neuwahlen schon diesen Sommer befürchten muss, unklug wäre, nicht mit ihm zu rechnen. (…) Seine Listigkeit, wenn es darum geht, Koalitionen und Bündnisse zu bilden, ist in der israelischen Politik unerreicht und hat nur noch neue Höhen erreicht, als er seine Prinzipien über Bord geworfen und sich mit Leuten wie Ben-Gvir und Smotrich verbündet hat." Auch mit amerikanischen Beratern hat Remnick gesprochen, so zum Beispiel mit Aaron David Miller: "'Der politische Narzissmus, der Netanjahus Karriere insbesondere im letzten Jahrzehnt ausmachte, ist beeindruckend. Die Schwierigkeiten, mit denen Israel konfrontiert ist, sind unvorstellbar, und trotzdem fügt der Regierungschef jeder Entscheidung eine Fußnote an: Was bedeutet das für meine politische Karriere und meine Freiheit?'"

Weitere Artikel: E. Tammy Kim schickt eine Reportage über den Versuch in Oregon, Drogen zu entkriminalisieren. Leslie Jamison erzählt, wie sie sich nach der Geburt ihres Kindes von ihrem Mann entfremdete. Louis Menand überlegt mit David Bellos und Alexandre Montagu, ob AI der Tod des Copyrights ist. Rivka Galchen liest Marion Gibsons Buch über Hexenverfolgung. James Wood bespricht Hisham Matars Roman "My Friends". Carrie Battan sah Jacqueline Novaks Netflix-Komödie "Get on Your Knees" über die erforderlichen Fertigkeiten für einen Blowjob. Und Inkoo Kang amüsiert sich mit neuen Folgen der HBO-Serie über "True Detective" Jodie Foster.

Magazinrundschau vom 09.01.2024 - New Yorker

Der palästinensische Dichter Mosab Abu Toha schreibt für den New Yorker über die Flucht seiner Familie aus dem Gazastreifen nach den Ereignissen des 07. Oktober. Auf seiner Flucht wird er aufgrund einer Verwechslung von Soldaten der IDF inhaftiert, die ihn für einen Hamas-Kämpfer halten: "Ein Mann spricht mich auf Englisch an. 'Du bist ein Kämpfer der Hamas, richtig?' 'Ich? Ich schwöre, nein. Ich habe 2010 aufgehört, in die Moschee zu gehen, als ich an die Universität gegangen bin. Ich habe die letzten vier Jahre in den USA verbracht und einen Master of Fine Arts in Kreativem Schreiben an der Syracuse University gemacht.' Er scheint überrascht. 'Einige Hamas-Mitglieder, die wir gefangengenommen haben, haben bestätigt, dass du zur Hamas gehörst.' 'Sie lügen.' Ich frage nach Beweisen. Er schlägt mir ins Gesicht. 'Du musst beweisen, dass du nicht von der Hamas bist!' Alles um mich herum ist düster und beängstigend. Ich frage mich, wie man den Beweis dafür erbringen soll, dass man etwas nicht ist?" Da sein Sohn amerikanischer Staatsbürger ist, kann die Familie nach der Freilassung Tohas nach Ägypten ausreisen. Eigentlich aber möchte er zurückkehren: "Ich hoffe, dass ich zurück nach Gaza gehen kann, wenn der Krieg vorbei ist, das Zuhause meine Familie wieder aufbauen, es mit Büchern füllen. Dass uns eines Tages alle Israelis als gleichwertig ansehen - als Menschen, die auf ihrem eigenen Land leben können, in Sicherheit und Wohlstand, und sich eine Zukunft schaffen können. Dass mein Traum, Gaza von einem Flugzeug aus sehen zu können, Realität wird, und dass mein Zuhause viele weitere Träume ermöglicht. Es stimmt, dass es viele Dinge gibt, die man an den Palästinensern kritisieren kann. Wir sind gespalten. Wir leiden unter Korruption. Viele unserer Anführer vertreten nicht unsere Interessen. Manche Menschen sind gewalttätig. Aber im Endeffekt haben wir mindestens eines mit den Israelis gemein. Wir brauchen ein eigenes Land - oder wir leben zusammen in einem, in dem Palästinenser die gleichen Rechte haben. Wir sollten unseren eigenen Flughafen und Hafen, unsere eigene Wirtschaft haben können - wie jedes andere Land auch."

Magazinrundschau vom 12.12.2023 - New Yorker

Der Onkologe Siddhartha Mukherjee hat sich mit etlichen Wissenschaftlern unterhalten, die versuchen herauszufinden, welchen Einfluss Karzinogene haben und wieso sie bei manchen Menschen zu Krebs führen und bei anderen nicht. Insbesondere Charlie Swanton und sein Team haben wichtige Erkenntnisse gewonnen: "Jeder individuelle Krebs kommt aus einer einzigen Zelle und doch enthält jeder Tumor tausende Klonzellen. Krebs behandeln oder heilen bedeutet, diese große Spannbreite an genetischer Diversität zu bewältigen. Es ist ein Krieg gegen die Klonzellen. Und die klinische Relevanz ist offensichtlich. Klonzellen, die Mutationen entwickeln, die dann wiederum Resistenzen gegenüber Krebstherapien ausbilden, sind diejenigen, die sich durchsetzen und Metastasen formen. 'Man kann den Zellen nicht immer zuvorkommen', hat Swanton beobachtet - und damit die Bedeutung dessen unterstrichen, die Tumore daran zu hindern, überhaupt zu wachsen." Entscheidend sind für das Wachstum von Krebszellen aber auch die Umgebung und die Umstände, in denen sich die Zelle befindet: Eine Studie hat gezeigt, dass der eingesetzte "chemische Trigger Immunzellen dazu bringen kann, eine Entzündungskaskade auszulösen und dass diese Entzündung wiederum dafür sorgen kann, dass Krebszellen wachsen". Für Mukherjee erinnert diese Entdeckung an den detektivischen Spürsinn, den er in manchen Kriminalromanen lesen kann: "'Das entscheidende Kriterium, ein großes literarisches Werk zu identifizieren', hat mir ein Freund und eifriger Leser mal erzählt, 'ist, dass die Person, die den Roman zu lesen anfängt und die, die ihn beendet, nie dieselbe sein dürfen. Der Roman ändert dich.' Das Gleiche gilt für große Entdeckungen der Naturwissenschaften. Es verändert die Sicht auf die Welt fundamental. Swantons Team ist dem Rätsel mithilfe von Epidemiologie, Toxikologie, Immunologie und Humangenetik auf die Spur gekommen und hat dann einen kausalen, biologisch plausiblen Mechanismus für die Krebsentstehung ausgegraben. Das ist eine der elegantesten Verflechtungen der Disziplinen, die mir in der Wissenschaft je begegnet sind."

Außerdem: Anthony Lane sah im Kino Jonathan Glazers "The Zone of Interest" über Kommandanten des Vernichtungslagers Auschwitz, Rudolf Höß.

Magazinrundschau vom 05.12.2023 - New Yorker

Seit Jahren arbeiten Microsoft und OpenAI daran, künstliche Intelligenz sicher und für möglichst viele Nutzer zugänglich zu machen, jetzt hätte ein Coup gegen den OpenAI-CEO Sam Altman dem Ganzen beinahe den Garaus gemacht, erzählt Charles Duhigg. Altman war kurz vor Thanksgiving ab- und ebenso schnell wieder eingesetzt worden, an seiner statt müssen nun einige Aufsichtsratsmitglieder gehen, die Angst vor den Möglichkeiten der KI bekommen hatten. Die große Skepsis ist sicher berechtigt, was aber manchmal vielleicht zu kurz kommt - vor allem in der deutschen Berichterstattung - sind die Chancen, die KI bietet: zum Beispiel für jemanden wie den 1972 geborenen Kevin Scott, der in einer armen Familie aufwuchs und als erster in der Familie ein College besuchte. Heute ist Scott Chief Technology Officer von Microsoft und maßgeblich für die Zusammenarbeit mit OpenAI verantwortlich. Ein Teil seiner Agenda war von Anfang an, wie er in einem Memo an seinen Chef erklärte, "Menschen zu fördern, die normalerweise von der Technologiebranche ignoriert werden. Für Hunderte Millionen von Menschen, so sagte er mir, seien die Vorteile der Computerrevolution weitgehend unerreichbar, es sei denn, man könne programmieren oder arbeite für ein großes Unternehmen. Scott wollte, dass die künstliche Intelligenz die Art von einfallsreichen, aber digital ungebildeten Menschen, unter denen er aufgewachsen war, befähigt." Sein Optimismus wird geteilt von der 1988 in Albanien geborenen Mira Murati, die ihm bei OpenAI am nächsten steht. "Wie er war sie in Armut aufgewachsen. Als sie 1988 in Albanien geboren wurde, hatte sie mit den Folgen eines despotischen Regimes, dem Aufstieg des Gangsterkapitalismus und dem Ausbruch des Bürgerkriegs zu kämpfen. Sie bewältigte diese Umwälzungen durch die Teilnahme an Mathematikwettbewerben. Ein Lehrer hatte ihr einmal gesagt, dass, solange sie bereit war, um Bombenkrater herum zu navigieren, um zur Schule zu kommen, er dies auch tun würde. Als Murati sechzehn Jahre alt war, erhielt sie ein Stipendium für eine Privatschule in Kanada, wo sie hervorragende Leistungen erbrachte. 'Ein großer Teil meiner Kindheit bestand aus Sirenen und Menschen, die erschossen wurden, und anderen schrecklichen Dingen', erzählte sie mir im Sommer. 'Aber es gab auch Geburtstage, Verknalltheit und Hausaufgaben. Das lehrt einen eine gewisse Hartnäckigkeit - daran zu glauben, dass die Dinge besser werden, wenn man weiter an ihnen arbeitet.'"

Weiteres: Parul Seghal überlegt, was einen guten Kritiker ausmacht. John Adams denkt über musikalische Denkmäler nach. Alex Ross hörte "eine schillernde Auswahl neuer Musik" beim California Festival unter Esa-Pekka Salonen. Anthony Lane sah im Kino Yorgos Lanthimos' Film "Poor Things" mit Emma Stone, Willem Dafoe und Mark Ruffalo.

Magazinrundschau vom 28.11.2023 - New Yorker

Jennifer Gonnerman unterhält sich mit der Schwester eines Amokläufers, die weiterhin zu ihrem Bruder hält - obwohl er auch die eigenen Eltern umgebracht hat. Kip Kinkel hat zum Tatzeitpunkt unter einer Psychose gelitten, die nicht erkannt worden war. "Ich habe Kristin gefragt, ob es einen Moment gegeben hat, an dem sie Kip vergeben konnte für das, was er getan hat. 'Ich habe nie diesen Moment erreicht, in dem ich nur noch wütend auf ihn war und ihm hätte verzeihen müssen', sagte sie mir. 'Er konnte sein Verhalten nicht steuern.' Sie hat mir gegenüber geäußert, dass ihre Wut sich nicht gegen ihren Bruder richtet, sondern gegen die Tatsache, dass er nie die psychologische Hilfe bekommen hat, die er gebraucht hätte. Nach dem Tod ihrer Eltern ist Kip ihr einziger naher Verwandter und ihr Bedürfnis, an dieser Beziehung festzuhalten, scheint auch ihre Sicht auf das Geschehene beeinflusst zu haben. 'Wir hatten gerade unsere Eltern verloren', sagt sie und macht eine Pause. 'So hat es sich für mich immer angefühlt - es ist so, dass wir unsere Eltern verloren haben, und nicht, 'Er hat sie uns genommen.'' Eines Abends, als Kristin uns über die Autobahn fährt, blättere ich durch die Familienalben, die sie mitgebracht hat. Darin sind Fotos der Familie mit ihren Fahrrädern, mit Kip, der wie ein Football-Spieler der Seattle Seahawks angezogen ist, mit der Familie im Urlaub in Nordkalifornien, wie sie mit ihrem Volkswagen durch einen Mammutbaum fahren. 'Wir waren eigentlich eine ganz normale Familie', findet Kristin. Aber in der Art und Weise, wie sie in den Medien dargestellt werden, bemerkt sie ein Muster: 'Es gibt da dieses große Bedürfnis, uns in eine Schublade zu stecken und uns einen Stempel aufzudrücken, der sich von dem unterscheidet, den du deiner eigenen Familie gibst. Denn wenn wir ähnlich wären, hätte es genauso gut deine Familie sein können. Und ich glaube, dieser Gedanke sorgt bei anderen für großes Unbehagen.'"

Außerdem: Adam Kirsch rät, den Bruder von Isaac Bashevis Singer, Israel Joshua Singer, zu entdecken: "Das Werk von Israel Joshua Singer, das in den fünfzehn Jahren vor dem Holocaust geschrieben wurde, spiegelt eine Zeit wider, in der die jiddische Zivilisation lebendiger und moderner war als je zuvor. Es zeigt auch, dass Juden in Osteuropa bereits spüren konnten, wie ihre Zukunft verschwand, noch bevor der Holocaust überhaupt denkbar war." Rebecca Mead porträtiert Sandra Hüller.

Magazinrundschau vom 14.11.2023 - New Yorker

Masha Gessen interviewt den Psychiater und Psychoanalytiker Robert Jay Lifton, geboren 1926, der zu psychologischen Strukturen des Totalitären, zur Psyche der Nazi-Täter und zu den Auswirkungen der Atombomben geforscht hat. In seiner Arbeit hat sich Lifton viel mit dem Begriff des "Überlebenden" befasst: "Ich mache einen Unterschied zwischen dem hilflosen Opfer und dem Überlebenden als Akteur der Veränderung. Am Ende meines Buches über Hiroshima habe ich der Beschreibung des Überlebenden ein langes Kapitel gewidmet. Überlebende großer Katastrophen sind sehr besonders. Sie haben Zweifel über den Fortbestand des Menschlichen. Überlebende eines schmerzhaften Verlusts von Familienmitgliedern oder nahestehenden Menschen eint das Bedürfnis, diesem Überleben eine Bedeutung zu geben. Menschen können behaupten, Überlebende zu sein, selbst, wenn sie es nicht sind; Überlebende selbst lassen ihre Frustration manchmal an ihrem Umfeld aus. Es gibt alle möglichen Probleme mit den Überlebenden. Und trotzdem, sie haben ein bestimmtes Wissen dadurch, was sie erlebt haben und andere nicht. Überlebende haben mich überrascht, indem sie Dinge gesagt haben wie 'Auschwitz war scheußlich, aber ich bin froh über diese Erfahrung.' Ich war erstaunt, diese Dinge zu hören. Natürlich haben sie damit nicht gemeint, dass sie es genossen haben. Aber sie haben versucht zu sagen, dass sie realisiert haben, dass sie einen Wert und eine Wichtigkeit durch die Dinge haben, die sie durchlebt haben. Und das habe ich dann als Überlebensmacht oder Überlebensweisheit bezeichnet."

Magazinrundschau vom 21.11.2023 - New Yorker

Joyce Carol Oates ist eine ziemlich schreibwütige Autorin, stellt Rachel Aviv fest, mindestens ein Buch schreibt sie jedes Jahr - Schreiben ist auch Lebens- und Krisenbewältigung. Eine solche Krise hat Oates nach ihren ersten veröffentlichten Büchern erlebt und sich produktiv zu Nutzen gemacht: "Sie hat sich gefühlt sich als hätte sie eine Wolke im Kopf, die sich langsam ausbreitet, bis sie so schwer war wie Beton. Sie hat eine Reihe an Spezialisten konsultiert, um herauszufinden, ob etwas mit ihr falsch ist. Eines Tages hat sie im Bett liegend darüber nachgedacht, wie viel Zeit sie mit Arztterminen verbracht hat. 'Ich dachte mir - was für eine Zeitverschwendung, wirklich, aber warum nicht eine Geschichte darüber schreiben?', hat sie ihrer Freundin Gail Godwin geschildert und nahegelegt, dass die Symptome psychosomatischer Natur sind. Die Kurzgeschichte heißt 'Plot' und handelt von einem männlichen Autor, der kurz vor einem Nervenzusammenbruch steht und jede seiner Stimmungen in einen seiner Charaktere oder in eine Szene transformiert. Oates hat Godwin erzählt, dass Kunst die Bedingungen für einen gesunden Verstand schaffen kann. 'Wenn ich mich unruhig fühle, schreibe ich über eine unruhige Person', erklärt sie. 'Wenn mir danach ist mich aufzulösen, ist es nur natürlich, mich in etwas anderes aufzulösen.' Die gleiche Methode lässt sich anwenden, schreibt sie, bei dem Dilemma, eine 'umfassende, komplexe Seele' zu haben, die öffentlich aber nur als 'dünnes, fadenscheiniges Rinnsal' erscheint. Als Oates 'Plot', in der Paris Review erschienen, noch mal gelesen hat, dachte sie 'Mein Gott! - War ich das?', wie sie Godwin schrieb. 'Und habe ich das überstanden, habe ich die Sache besiegt? Oh ja.' Fiktion, hat sie in ihr Tagebuch geschrieben, kann als eine Art 'Gegen-Zusammenbruch' wirken."