Wie sich die Zeiten ändern. In Granta 10
war das Reisen noch ein glamouröses Ereignis. In Granta 157
ist es so schuldbeladen, dass zu Hause bleiben die einzige Option zu sein scheint.Tom Chesshyre
erinnert sich noch gut daran, wie populär und wundervoll geschrieben in den 80ern
Reisereportagen waren. Bill Buford gab 1983
Granta 10 heraus, eine Ausgabe mit literarischen Reportagen von Gabriel Garcia Marquez, Paul Theroux, Colin Thubron, Saul Bellow, Martha Gellhorn u.a.. Ja, selbst in den 00er Jahren, als der
Perlentaucher seine
Magazinrundschau auf die Beine stellte, waren Zeitungen und Magazine noch gespickt mit großen Auslandsreportagen. Die deutsche Sektion der
Lettre vergab von 2003 bis 2006 den
Lettre Ulysses Award, einen internationalen Preis für literarische Reportagen. Heute scheint diese Form der Erzählung mit ihrer Mischung aus Fakt und Fiktion aus der Mode gekommen zu sein. Es gibt mehrere Gründe dafür: Billige Flüge, die den Massentourismus in jede Ecke der Welt bringen, das Internet, die neue Vorliebe für Nabelschau und schließlich noch ein weiterer Grund: Die Reporter zweifeln heute offenbar oft
an ihrer Berechtigung, von einem fremden Land zu erzählen, so Chesshyre. "In 'The Travel Writing Tribe' verweist Tim Hannigan auf eine wahrgenommene '
kulturelle Aneignung' durch privilegierte westliche Menschen, die oft 'sehr männlich, sehr weiß' und teuer ausgebildet sind und in fremden Ländern auftauchen und Fragen stellen. Der Akademiker Charles Sugnet geht noch einen Schritt weiter und beschuldigt die Chatwins und Therouxs, 'eine anspruchsvolle Version des Katalogs von Banana Republic zu sein... ihr Gepäck ist voll mit tragbaren Splittern des
kolonialistischen Diskurses'. Der Gedanke, dass so gut wie niemand das Recht hat, irgendwohin zu reisen und darüber zu reflektieren, scheint sich durchgesetzt zu haben. Der Herausgeber der neuesten Ausgabe des Magazins,
Granta 157, der Reiseschriftsteller
William Atkins, beginnt seine Einführung in die Ausgabe zum Thema Reiseschriftstellerei mit dem Eingeständnis, dass er auf einer Reise nach Xinjiang in China (wo sich 'Umerziehungslager' für das verfolgte Volk der Uiguren befinden), 'nicht zum ersten Mal den
Selbstekel des europäischen Reiseschriftstellers an einem unruhigen Ort gespürt habe, der - abgesehen von journalistischen Vorwänden - weder ein Nachrichtenkorrespondent noch ein internationaler Beobachter ist, sondern im Grunde ein Tourist mit einem Buch im Kopf'. Dies ist nur ein Aspekt dessen, was in einigen Kreisen eine
fast vollständige Ablehnung - oder vielleicht ein tiefes Misstrauen - gegenüber der Reiseschriftstellerei zu sein scheint. Schon der Akt des Reisens scheint heikle Fragen über die Eignung des Genres aufzuwerfen. Jeder Langstreckenflug, so Atkins, 'kann aufgrund der Auswirkungen des Kohlenstoffs plausibel als ein Akt der Gewalt beschrieben werden'. Im Gegensatz zu Buford (dessen Titelbild eine glamouröse Frau und einen Piloten mit Koffern beim Aussteigen aus dem Flugzeug zeigte) wurden seine Autoren 'vom Fliegen abgehalten', und der Titel der Ausgabe - Should We Have Stayed At Home? - redet nicht um den heißen Brei herum. Die in der Luft hängende Antwort 'Ja' scheint die
gesamte Literaturgattung zu '
canceln'."