Im Kino

Gegen Willen und Appetit

Die Filmkolumne. Von Nicolai Bühnemann
17.04.2024. Eine beschwingte Kombination geläufiger Genreversatzstücke liefern Matt Bettinelli-Olpin und Tyler Gillett mit ihrem neuen Horrorfilm ab. "Abigail" beginnt als geradliniger Entführungsthriller, kann aber auch mit blutdürstigen Vampiren und genickbrechenden Mafiosi aufwarten.

Das Filmemacher Duo Matt Bettinelli-Olpin und Tyler Gillett machte in den vergangenen beiden Jahren, nach einigen kleineren Arbeiten im Horror-Genre, mit dem fünften und sechsten Teil der in den Neunzigern begonnenen "Scream"-Saga auf sich aufmerksam. Ihr neuer Film suggeriert nun, dass die Stärken der beiden weniger darin bestehen, sich in einem vorgefundenen Kosmos zu verwirklichen, als sich einen eigenen zu schaffen. "Abigail" ist zwar wild zusammengestückelt aus allerlei bekannten Genreversatzstücken, verknüpft diese jedoch zu einer kleinen, geradlinigen Erzählung. Im Vorspann sehen wir die Titelfigur (die fünfzenjährige Irin Alisha Weir gibt ihr eine beeindruckende Präsenz) als Ballerina zu den berühmten Klängen von Tschaikowskys "Schwanensee" elegant durchs Scheinwerferlicht tanzen, anmutig wischen ihre Arme die in geschwungenen rosa Lettern gehaltene Titeleinblendung von der Leinwand. Doch der Frieden, den diese Bilder ausstrahlen, ist von kurzer Dauer: Das Mädchen wird entführt von einem Team maskierter Männer und Frauen, die von ihren reichen Eltern Lösegeld erpressen wollen.

Der Auftraggeber der Bösewichter, Lambert (Giancarlo Esposito), nimmt die Kidnapper und ihre Beute in einem abgelegenen alten Herrenhaus in Empfang, und verkündet der aus knallharten Profis handverlesenen Gruppe drei einfache Regeln: keine Namen, keine Backgroundgeschichten, keine Smartphones. Ein Wochenende lang sollen sie das Mädchen festhalten, bis ihren Eltern die Lösegeldforderung in Höhe von fünfzig Millionen Dollar überbracht wird. Damit sie sich gegenseitig ansprechen können, gibt er ihnen Namen: Joey (Melissa Barrera), Frank (Dan Stevens), Sammy (William Catlett), Dean (Angus Cloud; der Darsteller verstarb unmittelbar nach den Dreharbeiten), Peter (Kevin Durand) und Rickles (William Catlett). Dass er die Vornamen dem berühmten Rat Pack entlehnt, ist erst einmal ein popkultureller Scherz, der bald tiefere Bedeutung erhällt, weil dieses metaphorische Rudel, das es sich zunächst bei Drinks, Joints und Musik gemütlich macht, bald feststellt, dass es in eine hermetisch verriegelte Falle gelockt wurde.

Wer sie ihnen gestellt hat, bleibt bis etwa zur Häfte des Films unklar. Jedenfalls finden sie bald die Leiche Rickles, des einzigen Afroamerikaners des Teams, grausig entstellt und enthauptet. Die anderen müssen nun herausfinden, wer sie in das Haus gelockt hat. Spielt Abigails Vater, der sagenumwobene Mafiaboss Salazar (Matthew Goode), eine Rolle in diesem Spiel? Und, falls ja, welche? Was hat Lambert in mit der Sache zu tun? Die Antworten liefert der Film nach und nach, strukturiert wird er keineswegs durch Drehbuchwendungen. Vielmehr ist die Erzählwelt zu Beginn bewusst skizzenhaft gehalten, sodass uns und den Protagonist*innen ihre Regeln nach und nach in kleinen, überraschend verabreichten Informationshäppchen aufgetischt werden. Mir zumindest hat es beim Genuss des Films geholfen, ihn vollkommen unvorbereitet zu sehen, ohne jegliche Vorstellung, was auf mich zukommen würde.


Einen ersten Hinweis auf die Lösung der Rätsel geben die Gespräche, die Sammy führt. Sie stellt sich bald als eigentliche Protagonistin des Films heraus, wir erhaschen einen kurzen Blick auf das Bildschirmschonerfoto ihres Handy, und wissen deshalb, dass sie einen Sohn in Abigails Alter hat. Die Identifikationsstruktur zwischen dem verängstigten, gefesselten Mädchen und der vermummten erwachsenen Entführerin, die ihr eine Pistole an den Kopf hält, bleibt sonderbar opak, als wäre nicht ganz klar, wer in dieser Konstellation gut und wer böse ist. Statt eines eindeutigen Machtverhältnisses entsteht ein unheimliches Gefühl, die beiden begegnen sich auf Augenhöhe.

Joey wiederum beweist Leader-Qualitäten und ein genaues Auge: so erkennt sie, zum Beispiel, in Peter das einstige Kind, das in der Schule so lange gemobbt wurde, bis es sich zum bulligen Koloss aufpumpte, der nun im Auftrag der Mafia Genicke bricht. Der Machtkampf um die Führungsposition innerhalb der Gruppe ist damit eröffnet… und läuft parallel zum Kampf der Menschen gegen Vampire. Denn es zeigt sich, dass die Gruppe von einer Vampirin gejagt wird, die gerne mit ihrem Essen spielt.

Gillett und Bettinelli-Olpin zeigen sich in ihrem sechsten gemeinsamen Langfilm als ambitionierte Routiniers der Inszenierung schummrig-unheimlicher und klaustrophobisch-enger Räume, durch die sich die Figuren zwängen, und die oft nur vom Licht ihrer Taschenlampen erhellt werden. Die Spannung ist konstant hoch, und die düstere Atmosphäre entlädt sich immer wieder in kathartischen Gewalt-Explosionen. Vampire - bald gibt es davon mehr als nur einen - zu töten, stellt sich wegen ihrer übermenschlichen Stärke, Schnelligkeit und Regenerationsfähigkeit als nahezu unmöglich heraus; gelingt es aber doch, ihnen einen Pfahl durchs Herz zu treiben oder sie mit Sonnenlicht in Berührung zu bringen, zerfallen sie nicht einfach zu Staub, sondern zerplatzen mit einem großen Knall, gefolgt von einem regelrechten Regen aus Blut und Gedärmen.

Außerdem beweist das Filmmacher-Duo, dass es unterschiedliche Register des Schreckens zu ziehen versteht - in der abgründigsten Szene des Films kämpft sich Joey im Keller des Hauses durch eine Grube voller Überreste menschlicher Körper in unterschiedlichen Stadien des Zerfalls. Wie in vielen guten Genrefilmen entsteht die Wirkung von "Abigail" durch eine gelungene Kombination von Reduktion - des Raums, der Zeit, des zehnköpfigen Casts - und Exzess, der nicht zuletzt einer der Sprache ist; so viele laute und ausgelassene Schimpfworttiraden gab es in einem vergleichbaren Film lange nicht mehr. Der Plot läuft schließlich auf eine doppelte Familienzusammenführung hinaus, in der Eltern zu ihren Kindern zurückkehren und eine Tochter sich gegen den Willen (und Appetit) ihres Vaters behaupten muss.

Nicolai Bühnemann

Abigail - USA 2024 - Regie: Matt Bettinelli-Olpin, Tyler Gillett - Darsteller: Melissa Barrera, Dan Stevens, Kathryn Newton, William Catlett, Kevin Durand, Angus Cloud, Alisha Weir, Giancarlo Esposito - Laufzeit: 109 Minuten.