Vorgeblättert

Leseprobe zu Celeste Ng: Was ich euch nicht erzählte. Teil 3

19.05.2016.
     Sein Vater am Beckenrand war ebenfalls unschlüssig. Sollte er die Kinder zwingen, wieder ins Wasser zu gehen? Wenn er etwas sagte, würde er die Aufmerksamkeit auf den Streich lenken. Er könnte seinen Sohn rufen, könnte sagen: Es wird Zeit zu gehen. Dann würde Nath die Augen öffnen und nur Wasser um sich sehen. Der Chlorgeruch biss James langsam in der Nase. Plötzlich sah er auf der anderen Beckenseite einen verschwommenen Fleck, der lautlos ins Wasser glitt. Eine Gestalt näherte sich Nath, ein sandfarbener Schopf durchbrach die Oberfläche: Jack.
     "Polo", rief Jack. Der Ruf hallte an den Kachelwänden wider: Polo. Polo. Polo. Schwindelig vor Erleichterung, machte Nath einen Satz nach vorn. Jack hielt still, trat im Wasser auf der Stelle und wartete, bis Nath ihn an der Schulter erwischte. Einen kurzen Augenblick lang sah James pure Freude im Gesicht seines Sohnes, die dunkle verzweifelte Miene war wie weggewischt.
     Dann öffnete Nath die Augen, und das Leuchten erlosch. Er sah die anderen Kinder, mittlerweile lachend, um das Becken kauern und nur Jack im fast leeren Wasser. Jack wiederum drehte sich grinsend zu Nath. Für Nath war es ein spöttischer Blick: Reingelegt. Er schob Jack beiseite und tauchte unter Wasser, und als er am Rand wieder auftauchte, kletterte er hinaus, ohne sich abzuschütteln. Er wischte sich auch nicht das Wasser aus den Augen, ließ es einfach über sein Gesicht strömen, während er zur Tür stakste, darum wusste James nicht genau, ob er weinte.
     Im Umkleideraum weigerte sich Nath zu sprechen. Er weigerte sich, seine Kleider oder auch nur die Schuhe anzuziehen, und als James ihm zum dritten Mal die Hose reichte, trat Nath so fest gegen den Schrank, dass in der Tür eine Delle zurückblieb. James warf einen Blick über die Schulter und sah Jack, der aus dem Hallenbereich durch die Tür spähte. Er fragte sich, ob Jack wohl gleich etwas sagen, sich vielleicht entschuldigen würde, doch er stand nur stumm da und starrte. Nath, der Jack nicht gesehen hatte, marschierte hinaus in die Eingangshalle, und James packte ihre Sachen und ließ die Tür hinter sich zuschwingen.
     Ein Teil von ihm wollte seinen Sohn in den Arm nehmen und ihm sagen, dass er ihn verstand. Selbst nach fast dreißig Jahren erinnerte er sich noch daran, wie er sich im Sportunterricht an der Lloyd einmal in seinem Hemd verheddert hatte und seine Hose von der Bank verschwunden war, als er es endlich richtig anhatte. Die anderen waren schon angezogen, packten ihre Sportsachen in Schränke und banden ihre Schuhe zu. Die nackten Beine hinter seinem Rucksack versteckt, war er auf Zehenspitzen zurück in die Turnhalle geschlichen und suchte Mr. Childs, den Sportlehrer. Inzwischen hatte die Glocke geläutet, der Umkleideraum war leer. Zehn Minuten lang suchte er und schämte sich, vor Mr. Childs in Unterwäsche herumzulaufen, bis seine Hose unter einem Waschbecken zum Vorschein kam; die Beine waren um das U-förmige Rohr gebunden, an den Aufschlägen hingen Staubmäuse. "Wahrscheinlich hat sie jemand mit seinen Sachen verwechselt", hatte Mr. Childs gesagt. "Jetzt geh schnell in den Unterricht, Lee. Du kommst zu spät." James hatte gewusst, dass es kein Versehen war. Danach hatte er eine Methode entwickelt: erst die Hose, dann das Hemd. Er hatte nie jemandem von der Sache erzählt, aber die Erinnerung saß tief.
     Ein Teil von ihm wollte Nath also sagen, dass er Bescheid wusste, wie es war, aufgezogen zu werden, wie es war, wenn man nicht dazugehörte. Der andere Teil von ihm wollte seinen Sohn schütteln, ihn schlagen. Wollte ihn zu etwas anderem formen. Später, als Nath zu dünn für das Footballteam war, zu klein für das Basketballteam, zu ungeschickt für das Baseballteam, als er es vorzog, lieber zu lesen, einen Atlas zu studieren oder durch sein Teleskop zu spähen, statt Freunde zu finden, würde James an diesen Tag im Schwimmbad zurückdenken, an diese erste Enttäuschung über seinen Sohn, diese erste und äußerst schmerzvolle Zäsur in seinen väterlichen Träumen.
     An diesem Nachmittag jedoch ließ er Nath in sein Zimmer rennen und die Tür zuknallen. Als er gegen Abend anklopfte, um Nath ein Hacksteak anzubieten, antwortete er nicht. Im Wohnzimmer durfte Lydia sich später auf dem Sofa an ihn schmiegen und die 'Jackie Gleason Show' ansehen. Was sollte er sagen, um seinen Sohn zu trösten? Alles wird besser? Er brachte es nicht über sich zu lügen. Lieber die ganze Sache vergessen. Als Marilyn am Sonntagmorgen zurückkam, saß Nath mürrisch und stumm am Frühstückstisch, und James sagte mit einer wegwerfenden Handbewegung: "Ein paar Kinder haben ihn gestern beim Schwimmen geärgert. Er muss lernen, einen Scherz zu ertragen."
     Nath erstarrte und sah seinen Vater böse an, aber James, den es bei der Erinnerung daran, was er alles ausgelassen hatte, noch heute schauderte - Schlitzauge findet China nicht, - merkte es nicht, ebenso wenig wie seine Mutter, die zerstreut Schüsseln und die Cornflakes-Schachtel auf den Tisch stellte. Bei diesem letzten Frevel brach Nath schließlich sein Schweigen und sagte trotzig: "Ich will ein hart gekochtes Ei." Zur Überraschung aller brach Marilyn daraufhin in Tränen aus, und am Ende aßen alle kleinlaut und widerspruchslos ihre Cornflakes.
     Der ganzen Familie entging indes nicht, dass sich Marilyn verändert hatte. Für den Rest des Tages war sie launisch und gereizt. Und trotz der allgemeinen Vorfreude auf ein Brathähnchen, einen Hackbraten oder einen Schmorbraten zum Abendessen - eine richtige Mahlzeit nach so vielen im Ofen aufgewärmten Fertiggerichten - öffnete sie eine Dose Nudelsuppe mit Hühnchen und eine Dose Spaghetti-Os.
     Am nächsten Morgen, als die Kinder in der Schule waren, holte Marilyn einen Zettel aus ihrer Kommodenschublade. Tom Lawsons Telefonnummer hob sich immer noch leuchtend schwarz auf der hellblauen Visitenkarte ab.
     "Tom?", sagte sie, als er abhob. "Dr. Lawson. Hier ist Marilyn Lee." Als er nicht antwortete, fügte sie hinzu: "Die Frau von James Lee. Wir haben uns auf der Weihnachtsfeier getroffen und darüber gesprochen, ob ich vielleicht in ihrem Labor arbeiten kann."
     Pause. Dann, zu Marilyns Überraschung: Gelächter. "Ich habe schon vor Monaten einen Studenten engagiert", sagte Tom Lawson. "Ich hatte keine Ahnung, dass es Ihnen wirklich ernst war. Mit Ihren Kindern, Ihrem Mann und allem."
     Marilyn schenkte sich eine Antwort und legte auf. Eine Zeit lang stand sie in der Küche am Telefon und starrte aus dem Fenster. Draußen fühlte es sich nicht mehr nach Frühling an. Der Wind war beißend und trocken geworden; die Narzissen, vom warmen Wetter getäuscht, ließen ihre Köpfe gen Boden hängen. Überall im Garten lagen sie ausgestreckt da, die Stängel geknickt, die gelben Trompeten welk. Marilyn wischte den Tisch ab und zog das Kreuzworträtsel zu sich heran, um den amüsierten Unterton in Tom Lawsons Stimme zu vergessen. Das Zeitungspapier klebte am feuchten Holz, und als sie die erste Antwort eintrug, riss der Stift das Papier durch und hinterließ ein blaues "A" auf der Oberfläche.
     Sie nahm die Autoschlüssel vom Haken und ihre Handtasche vom Eingangstischchen. Anfangs dachte sie noch, sie wolle nur an die frische Luft, um einen klaren Kopf zu bekommen. Trotz der Kälte ließ sie das Fenster herunter, und während sie den See einmal, zweimal umrundete, verfing sich der Wind in ihren Haaren, und sie spürte ihn bis ins Genick. Mit Ihren Kindern, Ihrem Mann und allem. Ohne nachzudenken fuhr sie durch ganz Middlewood, vorbei am Campus, dem Supermarkt und der Rollschuhbahn, und erst als sie auf den Krankenhausparkplatz einbog, wurde ihr bewusst, dass dies von vornherein ihr Ziel gewesen war.
     Drinnen setzte sich Marilyn in die Ecke des Wartezimmers. Jemand hatte den Raum - Wände, Decke, Türen - in beruhigendem Hellblau gestrichen. Schwestern mit weißen Hauben und weißen Röcken trugen Insulinspritzen, Tablettenfläschchen, Verbandsmull und glitten wie Wolken hinein und hinaus. Freiwillige Helferinnen rollten hastig mit Essenstabletts beladene Wagen vorbei. Und die Ärzte: Sie schritten gelassen durch das Gewimmel, wie Flugzeuge, die sich stetig ihren Weg durch den Himmel bahnen. Sobald sie auftauchten, wandten sich ihnen die Köpfe zu; besorgte Männer, hysterische Mütter und zögernde Töchter erhoben sich bei ihrem Erscheinen. Es waren nur Männer, fiel Marilyn auf: Dr. Kenger, Dr. Gordon, Dr. MacLenahan, Dr. Stone. Wie war sie nur auf den Gedanken gekommen, sie könnte eine von ihnen sein? Es schien ihr so unmöglich wie die Verwandlung in einen Tiger.
     Dann, durch die Doppeltür aus der Notaufnahme: eine schlanke dunkelhaarige Gestalt, das Haar zu einem ordentlichen Knoten zurückgebunden. Im ersten Moment konnte Marilyn sie nicht einordnen. "Dr. Wolff", rief eine Schwester und nahm ein Clipboard von der Theke, worauf Dr. Wolff den Raum durchquerte, um es zu holen. Ihre Absätze klackerten auf dem Linoleum. Marilyn hatte Dr. Wolff erst einoder zweimal gesehen, seit sie vor einem Monat eingezogen war, aber sie hätte sie ohnehin nicht erkannt. Sie hatte gehört, dass Janet Wolff im Krankenhaus arbeitete - Vivian Allen hatte, über den Gartenzaun gebeugt, hinter vorgehaltener Hand von Spätschichten erzählt und dass der Wolff-Junge verwahrlose - aber sie hatte sich eine Sekretärin, , eine Schwester vorgestellt. Nicht diese elegante Frau, kaum älter als sie, hochgewachsen in schwarzer Hose, ein weißer Arztkittel locker um ihre schlanke Figur. Nicht diese Dr. Wolff, der ein Stethoskop um den Hals hing wie eine glitzernde Silberkette, die mit geschickten Händen den verletzten Arm eines Arbeiters abtastete, die klar und deutlich durch den Raum rief: "Dr. Gordon, könnte ich bitte kurz mit Ihnen über Ihren Patienten sprechen?" Und Dr. Gordon legte sein Clipboard beiseite und kam.
     Sie bildete sich das nicht nur ein. Jeder wiederholte es wie ein Mantra. Dr. Wolff. Dr. Wolff. Dr. Wolff. Die Schwestern, Penicillin-Fläschchen in der Hand: "Dr. Wolff, eine kurze Frage." Die freiwilligen Helferinnen, wenn sie an ihr vorbeigingen: "Guten Morgen, Dr. Wolff." Und, am verwunderlichsten, die anderen Ärzte: "Dr. Wolff, dürfte ich Sie um Ihre Meinung bitten?" - "Dr. Wolff, Sie werden in Raum Nummer zwei gebraucht." Erst jetzt glaubte Marilyn es wirklich.
     Wie konnte das sein? Wie hatte sie das geschafft? Sie dachte an das Kochbuch ihrer Mutter: Machen Sie heute jemanden glücklich - backen Sie einen Kuchen! Backen Sie einen Kuchen - geben Sie eine Party. Backen Sie einen Kuchen und nehmen ihn mit auf eine Party. Backen Sie einen Kuchen, weil es Ihnen heute einfach gut geht. Sie stellte sich ihre Mutter vor, die Backfett und Zucker schaumig rührte, Mehl siebte, eine Backform ausstrich. Gibt es etwas Erfüllenderes? Und Janet Wolff schritt durch das Wartezimmer im Krankenhaus, ihr Kittel so weiß, dass er leuchtete.

Mit freundlicher Genehmigung von dtv

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