Vorgeblättert

Leseprobe zu Sandra Hoffmann: Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist. Teil 3

23.07.2012.
Janek stellte sich aufrecht hin, obwohl er lieber den Kopf hätte hängen lassen, aber der Vater hatte einmal gesagt: Was auch immer du tust, erledige es mit Würde. Die Hand des Drecksacks fasste nach seinem linken Oberarm, packte für einen Moment zu, aber dann machte sich wieder der kleine Finger selbstständig und strich Janek über die feine Haut unterhalb der Achselhöhle. Er presste den Oberarm gegen die Flanke. Der Franke kicherte. Da ging die Tür auf, und einer der Soldaten aus der Kolonne kam mit einem komplett nackten Jungen aus dem Raum, der weinte. Er war klein und stämmig, trug einen roten Striemen auf dem Bauch wie einen schief sitzenden Gürtel, gut sichtbar, obwohl er mit seiner rechten freien Hand seinen Schwanz bedeckte. Den hatten sie also schon. Einen Augenblick begegnete er seinem Blick, der unter dichten schwarzen Augenbrauen verstört hervorschoss, und Janek blieb an ihm haften, aber die Augen des Leidensgenossen sprachen nicht zu ihm. Janek nickte ihm zu, der Junge senkte den Kopf. In der offenen Tür sah er Männer sitzen. Waren es drei gewesen oder vier, oder waren es erst vier, als der grausame Franke sich auch noch zu ihnen stellte?
He, sagte Bilinski zu sich selbst, er zwickte sich mit Zeigefinger und Daumen in die Wange, wie es früher sein Vater gemacht hatte, da war er noch ein richtig kleiner Junge ge-wesen. Von Eiswasser gefriert dir der Magen zu!, sagte der Vater. Warum fällt ihm das nun ein?
Ein Gewitter, weit entfernt ein Donner, noch einer, ein fernes dumpfes Grimmen in der Luft, nichts Bedrohliches. Wet-terleuchten kann er nicht sehen. In der Nacht liegt man mit geschlossenen Vorhängen, egal ob man ein Privater ist oder nicht. Nachts hat es dunkel zu sein.
Dass der elende Dreckskerl ihn nicht gezwungen hatte, die Unterhose auszuziehen, dass ihm der Schweiß wie ein kleines Rinnsal übers Brustbein hinabgelaufen war, in der schmalen Kerbe sich ein feuchtes Tal gebildet hatte, sein Bauch glänzte, seine Arme, sein Gesicht schweißfeucht waren, als er in diesem Saal vor den drei Soldaten stand, die ihn befragten: Name, Alter, Name der Mutter. Aha. Deutschstämmig, woher? Du lügst doch nicht, schlaues Kerlchen. Wie er nicht zittern wollte, wie er die Füße der Beamten anschaute, wie er die Ösen ihrer Schuhe zählte zwischen den Antworten, wie er versuchte, sich auf alles, was er zählen konnte, zu konzentrieren, als die Ösen bereits gezählt waren: die Fußbodendielen, die Leisten in den Fensterrahmen, die sichtbaren Flecken an den Wänden, was schwierig war, weil er mitten im Raum stand. Drei Lampen, lange Röhren, zogen sich durch die Raummitte, drei Stück, so dass er hell beleuchtet dastand.
Kniebeuge! Eins, zwei, drei!
Und wie er in die Knie ging, die knackten leicht, heute noch, und wie peinlich ihm seine knochigen Knie waren und seine knochigen Schenkel und seine langen schlaksigen Arme, aber alles war besser, als die Unterhose auszuziehen.
Arme heben, strecken. Was tust du eigentlich den ganzen Tag, Bürschchen? Keine Muskeln. Umdrehen!
Und wie einer der Beamten, oder Soldaten, vom Rasse- und Siedlungshauptamt aufgestanden, auf ihn zugekommen war, mit einem spitzen Gegenstand in der Hand, und er, Janek, nicht hatte hinschauen wollen. Und wie er deshalb auf die gestiefelten Füße dieses Mannes schaute, der sagte: Um ein Haar eine Trichterbrust! Und dann giggelnd lachte. Um ein Haar ein Mädchenlachen.
Das stimmte nicht, seine Brust war in Ordnung. Das Problem lag anderswo, aber er wehrte sich nicht. Besser, sie fanden etwas an seiner Brust falsch.
Umdrehen!
Und wie er den Blick auf seinem Rücken spürte, nicht nur den Blick, wie der Stift oder das Stöcklein, der jedenfalls spitze starre Gegenstand seinen Rücken hinabglitt, unangenehm jeden Wirbel nehmend, als fahre er über eine hügelige Straße. Und wie er dachte, nun rutscht er mir in den Arsch mit dem Ding, und "nicht zittern" dachte, bloß nicht zittern; seine Fußnägel waren lang, zu lange nicht geschnitten, und dass seine Zehen auch nicht symmetrisch waren, das nahm er da zum allerersten Mal wahr. Der Stift rutschte unter den Bund seiner Unterhose, dort, wo die Grube begann, hob den Bund an und Janek hatte schreien wollen: Nein! Aber er hielt nicht einmal die Luft an, zählte sich von seinen Zehen voran über die Holzdielen zur Wand, da schnalzte der Bund der Unterhose zurück.
Ein bisschen Fett auf den Rippen würde dir nicht schaden, Bürschchen, sagte nicht der Franke, sondern der im weißen Mantel, und "umdrehen!".
Da stand er wieder vor den dreien und neben ihm, in nur sehr geringem Abstand, konnte er die fränkische Schwuchtel atmen hören, er konnte sie sogar riechen. Und wie er wieder da rauskam, und zu seinen Kleidern? Die ganze Scheißtortur noch einmal rückwärts, hatte er gedacht, als er mit dem Schwein wieder zurück über den Flur gehen musste, dessen Hand seinen Oberarm umklammerte, dessen Zeigefinger immer wieder über die Arminnenseite Richtung Achselhöhle strich, sich dann wieder zu den anderen Fingern legte, festgezurrte Hand, als könnte er davonrennen wollen, so, wie er war. Er wollte es tun, er wollte es nicht. Und schließlich, schon angezogen, die Flecken an den Wänden von neuem gemustert, sortiert, nach Größe vermessen, nur aufgezählt, nicht archiviert, aber den Versuch gemacht, alles rückwärts zu zählen, achtundfünfzig, siebenundfünfzig, die großen Flecken an der Wand unterm Fenster, abgefallener Putz, sechsundfünfzig, fünfundfünfzig, das war ein Blutfleck, wie vierundfünfzig auch, Spritzer: dreiundfünfzig, zweiundfünfzig, einundfünfzig und so weiter, und noch lange nicht bei null waren sie an der Tür angekommen, das Dreckschwein und er, und die Treppe hinunter, übern Vorplatz und wieder rein in dieses Auto mit dem merkwürdig flatternden Dach. Oder weiß er das nicht mehr richtig? In der Erinnerung ein Geräusch von schlagenden Tauben. Im Auto saß der Junge vom Flur schon neben einem Soldaten auf der Rückbank.
Rück rüber, sagte der Franke, stank nach schwitzendem Mann und sagte zum Fahrer: Zu den andern!
Und setzte sich neben ihn. Und immer wieder versuchte Janek den Blickkontakt mit dem Jungen, der schaute nur auf sich selbst herunter, und Janek glaubte, er weinte, ab und zu zog er den Rotz hoch und röchelte. Und sie fuhren von Zagorzy aus durch die Felder, und er sah, sie näherten sich Gorlow, wohin auch sonst sollten sie fahren, und er hatte keine Ahnung, wohin er nun käme, aber klar, sie fuhren hinein in die Stadt, Richtung Bahnstation. Und in seinem Kopf nur das Rumoren, dass die Mutter es doch wissen muss, und Mili, und wie das gehen soll, wie sie das erfahren würden, sie würden ihn vermissen, und lieber wollte er aber nichts sagen, nichts fragen, denn was, wenn das Schwein Mili zu sehen bekäme, die war doch schön. Und so hatte er geschwiegen, gewartet, hatte immer wieder den zitternden Fuß beruhigen müssen, fest auf den Boden drücken, doch dann war das Zittern im Knie losgegangen, bis er das Knie niedergedrückt hatte, als sei es sein Feind. Der Arm des Dreckschweins war ihm in den tiefen Rücken nachgerückt, als er sich nach vorne gebeugt hatte; als er sich gegen den Widerstand aufrichtete, legte die Hand sich ihm in den Nacken.
Auf dem Hof, über den sie fuhren, standen Lastwagen, rangierten, und so viele Menschen waren da, Kinder, viel jünger noch als er, sicher noch nicht sechzehn. Und das Schwein zog den Jungen aus dem Auto, als der nicht aussteigen wollte, und riss ihn am Ohrläppchen, dass er schrie und dann hemmungslos heulte. Und wie sie in diese Baracke kamen, da roch es nach Holz, modrigem Holz, nach zu vielen Menschen, feucht und warm, zu warm. Alles war voller prall gefüllter Säcke gewesen, wessen Hab und Gut das war? Er hatte ja gar nichts dabei und der Junge auch nicht, und viele andere auch nicht, das sah er, als sie in den Lastwagen stiegen, der sie zum Bahnhof fuhr, das war am Tag später. Und hörte zum ersten Mal das Wort: Umwanderungszentralstelle. Und irgendjemand wies ihm ein Brett als Bett zu, und diesem Jungen das Brett über ihm, aber der Junge hatte Angst, oben zu liegen. Jakub! Und Janek gab ihm sein Brett und legte sich nach oben, da sah er nicht unbedingt hinüber auf die Bodenlager aus Stroh; wenn er nicht wollte, musste er manches nicht sehen; nicht die Anstrengungen der Erwachsenen, stark und zuversichtlich zu sein für die Kinder, denn dann würde er noch viel mehr an die Mutter und Mili denken müssen. Er lag oben und zählte die Streben, die den Saal unterteilten, hin und zurück und hin und zurück, als könnte man etwas falsch machen dabei, als müsste er sich immer wieder versichern. Und unten im Bett heulte Jakub, und er tat ihm nicht einmal leid, weil man so ein Weichei einfach nicht sein durfte, dann konnte man es gleich bleiben lassen mit allem, dann hatten die einen gleich. Aufrecht bleiben! Ein Vatersatz, der half. Als es dunkel geworden war, kannte er sich aus mit den fest installierten Dingen in der Baracke, Holzstreben, Deckenbalken, Fenstern, Türen, Bodendielen, auch jenen über ihm, die sehr knarzten und ihm sagten, dass dort auch noch Leute untergebracht waren, aber dafür interessierte er sich in dem Moment nicht. Er kannte die Zahlen des Saals, in dem er lag. Und war hungrig. Er erinnerte sich noch an den Lastwagen, der hatte eine Flatterplane übergespannt, und wie er und viele andere Burschen, Männer und Frauen dort einsteigen mussten am Morgen, und er versuchte als Letzter, wenigstens als Vorletzter oder als Vorvorletzter auf die Ladefläche zu klettern, weil er Angst hatte, zerquetscht zu werden, und vor dem Geruch dieser vielen Menschen. Und wie er sich nach Izy sehnte, sich vorstellte, er erklömme die Ladefläche, und Izy, freudig wedelnd, sah ihn und sprang tatsächlich hinterher, drängte sich an ihn, setzte sich dicht neben ihn, und er streichelte ihr struppiges warmes Fell, und sie leckte ihm übers Gesicht; wie er sich ein wenig schütteln musste, und mit der Hand den Hundespeichel abwischen, und er sah Izys braune freundliche Hundeaugen vor sich.
Die kleine Schwester? Er hat sie nicht hereinkommen hören. Da war sie.
Izy, sie hätte keine Angst gehabt, wenn ich keine Angst gehabt hätte, und ich hätte keine Angst gehabt, wenn sie mit dem Schwanz gewedelt und sich gefreut hätte, oder jedenfalls nicht so viel. So einfach ist das, sagt Bilinski.
Es ist niemand im Zimmer. Keine kleine Schwester. Das Bett ist nass, wie er. Zur Seite rücken, denkt er. Aber das hilft nicht und ist unbequem, dann fällt ihm der Arm über die Kante. Er rutscht wieder zurück. Sie wollte doch gleich wiederkommen. Er wischt die Hand am Bettlaken ab, dort, wo es trocken ist, und schließt die Augen wieder. Wenn er etwas in seinem Leben dringend und früh lernen musste, dann war es, den Kopf vom Körper unabhängig zu machen. Wer im Kopf lebt, überlebt. Wenn er die Augen schließt, geht alles von selbst. Die Ladefläche war voller Menschen, an der hintersten Kante saß er und sah sich fallen. Wenn die Klappe nicht hält, liege ich unten. Dass man leben wollte, obwohl man nicht wusste, was kommt, nur dass alles enden würde, was bisher war, dass nie mehr etwas werden würde, wie es war; deshalb hatte er nicht vom Lastwagen fallen wollen, er wollte leben. Auf der Ladefläche beginnt die Erinnerungslücke, wie er von dort aus in den Zug kam, wie es im Zug ausschaute? Alles weiß er, nur das nicht. An seinen Hunger erinnert er sich, daran, wie der Hunger so müde machte, dass er nur noch schlafen wollte, aber er konnte nicht schlafen, und dass er Berührung vermied. Höchster Schwierigkeitsgrad war das. Gab man Raum frei, nahm ihn sofort jemand ein. Dass er sich in seiner Vorstellung in den Hohlraum seines Bauches begab, dass ihm das gelang, als sei er nur noch darin, in seinem Bauch in seinem Körper, innen, als wäre er darin geborgen, mitten in den Geräuschen des hungrigen Magens, wie ein kleines Tier. Und dass der Hunger dadurch erträglicher wurde. Das stellt er sich jetzt so vor. Aber wie die Lippen trocken geworden waren, das kennt er wieder, seitdem er krank ist.
Nachts klopfen sie nicht an beim Eintreten. Die Tür öffnet sich und jemand steht da. Die kleine Schwester. Wenn sie es war, war alles gut. Jedenfalls besser.
Ich muss mich umziehen, sagt Bilinski.
Warum?
Ich brauche ein neues Laken.
Marita geht zum Schrank. Gestreifte Hose?
Es ist mir kalt!
Die kleine Schwester kommt mit der gestreiften Pyjamahose zu ihm herüber und schlägt das Deckbett zurück. Bilinski legt die Beine über die Bettkante, langsam lässt er sich auf den Fußboden hinabsinken, bis er sicher steht. Alles ist kalt, auch der Fußboden ist kalt, die Stuhlfläche, die Lehne, die Luft. Er fröstelt, es schüttelt ihn zwei Mal, worüber er gerne gelacht hätte, aber das Lachen wird zu einem merkwürdigen Krächzen, er verstummt und fühlt sich genötigt, etwas zu erklären.
Ich habe geschwitzt. Sagt er.
Die kleine Schwester sagt nichts.
Ich habe in die Hose gepisst und geschwitzt. Sagt Bilinski.
Sie wusste sich zu benehmen. Das schätzte er. Aber manchmal wollte er eine Antwort.
Es ist aus mir herausgelaufen.
Dafür können Sie nichts. Sagt sie.
Sie aber auch nicht.
Die kleine Schwester schüttelt den Kopf. Jetzt lacht sie nicht.
Soll ich Ihnen helfen? Fragt sie.
Sie soll bitte lachen, denkt er. Er versucht es noch einmal: Ich bin Ihr Putzjob. Sagt er und merkt, es klingt nicht witzig.
Sie schweigt.
Der nebenan wahrscheinlich auch, sagt er.
Soll ich Ihnen helfen, wiederholt die kleine Schwester freundlich.
Er schaut sie nicht an. Du bist ein Patient, denkt er, denkt er immer dann, wenn er sich nackt zeigen soll; dass er kein Mann ist für eine Krankenschwester, sondern nur ein Körper. Es war gut gegen die Scham, das zu denken. Er hebt sein Gesäß leicht an, damit sie ihm die Hose herunterziehen kann, er stemmt die Arme auf den Stuhl, sein Kopf sinkt ihm zwischen die Schultern und zwingt ihm den Blick auf seinen Schwanz auf, der klein und zipfelig auf zu viel Haut liegt. Bilinski richtet sein Kinn gegen Marita, er will nicht sehen, wie alles immer weniger wird an ihm.
Nie spürt man die Stille besser als nach dem mutwilligen Tod eines Tieres, sagt er.
Nach dem Tod eines Menschen, setzt ihm die kleine Schwester vorsichtig entgegen.
Menschen sterben still, antwortet er. Er spürt, dass sich ein Widerspruch in ihm auftut, aber er will den jetzt nicht hören. Von uns gehen, sagt er, was glauben Sie, warum das so heißt: Er ist von uns gegangen?
Sie hat einen Waschhandschuh geholt.
Lassen Sie das doch! Sagt er.
Wollen Sie lieber stinken?
Dann mach ich es selbst.
Sie gibt ihm den Handschuh und schaut ihn an.
Nicht. Sagt Bilinski. Drehen Sie sich bitte um!
Die kleine Schwester geht zum Waschbecken und dreht den Hahn auf.
Er reibt sich den Schwanz ab und die Schenkel.
Fertig, sagt er. Seine freie Hand liegt im Schoß, er weiß, dass das nichts besser macht, gar nichts, für die kleine Schwester auch nicht.
Sie nimmt ihm wortlos den Waschhandschuh aus der anderen Hand.
Dann ziehen wir die frische Hose an und ich mache noch Ihr Bett neu. Sagt sie.
Wir! Bilinski hört sich fauchen. Jetzt fangen Sie auch noch damit an.
Sie schweigt und bückt sich, der Pferdeschwanz baumelt an ihrem Hinterkopf. Er sieht ihren schmalen Rücken, er sieht sie für einen Augenblick anderswo. Er weiß, wo. Er weiß, wen er sieht, und spürt, dass der Wunsch, ihr das zu sagen, stärker wird: Sie könnten die kleine Schwester sein, von Hannah.
Er sagt, ich mach das selber, und streckt die Hände aus.
Sie schaut ihn nicht an. Auf der Höhe seiner Knie hält sie die Schlafanzughose fest, er beugt sich nach vorne, greift zu, sie steht auf, stellt sich hinter ihn. Das haben sie nicht abgesprochen.
Danke, denkt er.
Sie hebt ihn von hinten leicht an, so dass er die Hose über sein Geschlecht ziehen kann und über das Gesäß.
Danke, sagt er.
Für nichts, antwortet sie.

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Mit freundlicher Genehmigung von Hanser Berlin
(Copyright Hanser Berlin im Carl Hanser Verlag München 2012
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