Vorgeblättert

Leseprobe zu Vladimir Tasic: Abschiedsgeschenk. Teil 1

15.03.2007.
Allegro

Mein Bruder ist nicht mehr. Ich könnte auch sagen, von ihm ist nur noch eine Schachtel Asche übriggeblieben, doch jetzt ist auch diese Schachtel leer. Der Postbote, ein pickliger junger Mann in purpurroter Uniform, hat sie heute morgen gebracht; am zwölften Dezember zweitausend. Es war ein Dienstag. Ich wollte gerade zur Arbeit fahren. Meine Frau schlief noch. Der junge Mann legte die Sendung unmittelbar auf die Schwelle, als wollte er damit andeuten, daß ich sie erst dann in Besitz nehmen dürfe, wenn ich den absurd kleinen Raum, der auf dem Formular dem Empfänger zur Verfügung stand, ausgefüllt hätte. Eigentlich kriege ich nie Pakete. (Bücher, Rechnungen und Werbeprospekte der Pizzeria Corleone: das ja. Pakete nie.) Meine Frau hingegen mindestens zwei- oder dreimal die Woche. Normalerweise wacht sie nicht einmal auf, wenn es klingelt. Manchmal lacht sie nur über das Klingeln, im Schlaf. Die Päckchen kommen aus allen Ecken des Kontinents, und ich nehme sie brav, aber nicht ganz neidlos in Empfang. Sie enthalten meistens Pulver, aus denen sich Glasuren brennen lassen und die Namen tragen wie "Abendschatten", "Shino staubtrocken", "Kraquelee-Shino", "Karamell", "Indian Summer", "Altes Kupfer", "Eisenerde " und dergleichen. Manchmal finden sich in diesen Paketen auch sorgfältig gestapelte Säckchen mit schwarzem Lehm oder Terrakotta oder auch hin und wieder dieser Katalysator einer jeden alchimistischen Versuchsreihe, getrockneter Pferdemist aus Arizona als Granulat. Meine Frau ist eine erfolg reiche Kunsttöpferin. Ich hingegen könnte bis heute keinen Aufsatz schreiben zum Thema: "Was ich einmal werden will". Unterdessen arbeite ich als höherer technischer Berater in einer Firma, die Bildungssoftware für Medizinstudenten entwickelt.
Nichts Außerordentliches; und doch bringt dieser Beruf Geld, mit dem es sich in einer kleinen kanadischen Provinzstadt, deren Namen Sie sicherlich noch nie gehört haben, ganz angenehm leben läßt.
(So angenehm, daß ich mir Abendkurse in Geschichte und Kalligrafi e sowie Gitarrenunterricht leisten kann, aber auch, daß man mich alle Jahre wieder aus dem einen oder anderen Schreibworkshop rausschmeißt. Hauptursache dafür sind "unmotivierte lyrische Ergüsse"; und etwas seltener "die vergebliche Suche nach dem Geheimnisvollen im Empirischen".) Auf dem Formular stand diesmal mein Name. Ungeduldig unterschrieb ich. Der junge Mann wünschte mir einen guten Tag und stapfte zurück zum Lieferwagen, den er vor dem Haus geparkt hatte. Den Motor hatte er laufen lassen, es war Winter. Dem Knirschen des Schnees unter den Sohlen seiner Stiefel nach zu urteilen, durfte es fünfzehn oder zwanzig Grad unter Null sein. Hier ist, dachte ich, immer Winter. Ich nahm das Päckchen und machte die Tür zu. Unsere Hündin Phoebe - den Namen hat ihr meine Frau gegeben, sozusagen als Hommage an Salinger, ihren Lieblingsautor - strich aufgeregt um meine Beine, als ich den Pappkarton und das extrastarke Klebeband zerriß, womit das Päckchen an den Ecken verstärkt war. Die Sendung bestand aus einer Metallschachtel und einem Umschlag ohne Aufschrift, den ich aber erst später entdeckte. Eine Schachtel in der Schachtel, dachte ich, sehr originell. Wenn ich darin eine noch kleinere Schachtel fi nde, sagte ich zum Hund, wird jemand dafür geradestehen. Ich öffnete die Schachtel und spähte hinein. Und als ich die Asche erblickte, machte ich die - so würde ich heute sagen - Urne vorsichtig wieder zu; doch in dem Augenblick konnte ich noch gar nicht wissen, daß es sich um menschliche Überreste handelte, um den Staub und Schatten (da haben Sie so einen unmotivierten lyrischen Erguß), aus dem wir alle geschaffen sind. Das war eine ganz prosaische Blechschachtel, zwanzig mal zwanzig mal zehn Zentimeter groß, überzogen mit einem mattschwarzen Lack, der an den Rändern abblätterte und mehrere aufeinanderliegende Schichten erkennen ließ. Die Sedimente waren sichtbar genug, um mich von ihrer früheren Existenz zu überzeugen und in mir den Zweifel zu wecken, ob sie nicht eine geheimnisvolle Nachricht enthielten. Sollte dies der Fall sein, so ist es mir nicht gelungen, sie zu entziffern. Und dennoch hatte ich eine oder zwei Minuten lang das Gefühl, als hätte mein Bruder - der zu denen gehörte, die auf den Fensterscheiben ebenso beharrlich wie erfolgreich nach den Fingerabdrücken Gottes suchen - etwas Treffendes dazu sagen können. Ich weiß nicht was. Bei Poe las ich einmal, daß scharfsinnige Detektive vor allem über die Fähigkeit verfügen müssen, sich durch Nachahmung von Gesichtsausdruck, Körperhaltung und Bewegungen einer bestimmten Person in deren Lage zu versetzen und damit Einsicht zu erhalten in ihr intimstes Wesen. Mein Bruder erzählte mir, in Paris seien ganze Schulen der Psychoanalyse und Philosophie auf dieser Grundlage entstanden. Heute erscheint mir all das wie ein letzter Strohhalm, an dem man sich festzuhalten versucht. Aber an jenem Morgen lagen die Dinge anders. Es gelang mir, mich davon zu überzeugen, daß etwas dahintersteckte, stecken mußte. Mein Bruder hätte sicher gewußt was, sagte ich mir, ich muß mich nur in seine Lage versetzen, das heißt langsamer, gelassener atmen, so wie er es tat, und in meinen Augen jenes Leuchten der Mystiker, Romantiker und weiteren Propheten universaler Einfühlsamkeit aufscheinen lassen. Denn schließlich, dachte ich - wenn man dieses alte tautologische Sprichwort überhaupt als Denken bezeichnen kann - sind wir ja aus demselben Holz geschnitzt. Schon aufgrund des gemeinsamen genetischen Erbguts besaßen unsere Gesichter gewisse Ähnlichkeiten. Und auch unsere Art, uns zu bewegen, spiegelte diese Verwandtschaft wider. Wenn wir Basketball spielten, Mann gegen Mann, oder Tischtennis, durchschoß mich plötzlich der Gedanke, daß auch einem flüchtig auf uns geworfenen Blick (trotz der offensichtlichen Unterschiede in den subtileren Details des Spieles, der Geschwindigkeit und der Geschicklichkeit) auffallen müßte, daß in unseren Adern die gleiche explosive Mischung serbischen, zigeunerischen und slowakischen Blutes floß.

Leseprobe Teil 2

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