Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Olga Tokarczuk: Letzte Geschichten. Teil 3

30.01.2006.
Sie liegt auf dem Rücken, schließt die Augen. Jetzt sollte sie ihre Schlaftabletten nehmen. Sie sollte sich Wachsstöpsel in die Ohren stecken, sich auf die Seite legen und darauf warten, daß die Pillen wirken, aus denen der Schlaf in die klamme Stille keimt. Aber sie hat weder Pillen noch Ohrenstöpsel. Sie legt die Hand auf die Brust und prüft, wie immer, ob ihr Herz schlägt. Ihr Körper ist hart, widersetzt sich dem Druck der Hand. "Hart wie Holz", hört sie und sieht sich selbst, wie sie den Abhang hinabläuft, etwa dreizehn Jahre alt, in einem Kretonnekleid mit Mohnblumenmuster, das die Mutter später, als es verschlissen war, zu Staubtüchern zerriß. Sie ist unterwegs, um sich in der Ruine am Fluß mit anderen Mädchen zu treffen. Die Namen wollen ihr nicht einfallen, war eine Bozena dabei? Eine Jadzia?
     Irgend jemand hatte es aufgebracht, aber niemand wußte mehr wer, es mußte sehr lange her gewesen sein. Danach gaben es die älteren Mädchen an die jüngeren weiter. Es klappte immer.
     Alle knien sich im Kreis auf die Erde und schweigen, bis das Schweigen schließlich natürlich wird und nichts Besonderes mehr ist, so lange, bis man gar nicht mehr sprechen will. Danach zeigt jedes Mädchen mit der Hand eine Zahl. Sie zählen ab. Diejenige, die ausgezählt ist, legt sich in den Kreis und schließt die Augen.
     Dann beginnen die anderen, sie mit den Fingerspitzen zu berühren, zuerst nur mit den Fingerkuppen, dann immer stärker, und dabei sagen sie immer wieder die Worte: "Hart wie Holz, kalt wie Eis, leicht wie Federn." Immer wieder von vorne, bis die Hände ganz auf dem Körper liegen. Und sie drücken den liegenden Körper an den Boden und sagen dabei immer dieselben Worte: wie Holz, wie Eis, wie Federn, und dann, unvermittelt - ganz von selbst wissen sie jedesmal genau, wann der Zeitpunkt für diese Worte gekommen ist:

Wie Holz so hart,
Wie Federn so leicht,
Wir tragen deinen Sarg,
Königstöchterlein.

Wie Eis so kalt,
So hart wie Holz,
Wir vergraben deinen Sarg
In ewiger Gruft.

So hart wie Holz,
Wie Federn so leicht,
In der Erde das Loch
Ist nun dein Heim.

Auf den Spitzen ihrer Zeigefinger heben die Mädchen den steifen, vor Verblüffung totenstarren Körper hoch, mühelos wie einen hohlen Stengel, eine Figur aus Bimsstein, eine Schaumstoffgestalt.
     Nein, nein, es ist nie besser innerhalb des Kreises, besser ist es zu bewegen, als bewegt zu werden, besser zu zaubern, als sich in die Gewalt eines Zauberspruchs zu begeben, besser lebendig zu sein als tot, auch wenn man sich nur tot stellt.Was wäre passiert, wenn einmal eine von ihnen nicht aus der Trance erwacht wäre, wenn sie so stocksteif und bewußtlos geblieben wäre, mit geschlossenen Augen, weder tot noch lebendig? Wenn sie von dieser Reise nicht zurückgekehrt, für die anderen nur ein Ding geblieben wäre wie ein geknickter Zweig, ein Stein im Bach? Doch jede kommt zurück. Setzt sich auf und blinzelt mit den Augen, weit weg.
     Das sieht komisch aus, die anderen brechen in Lachen aus, und damit ist es vorüber. Diejenige, die in der Mitte des Kreises gewesen ist, geht als letzte nach Hause ins Dorf, sie hat das unbestimmte Gefühl, ausgenutzt worden zu sein, wie ein zufälliger Zuschauer im Publikum, der von einem Hypnotiseur auf die Bühne geholt und veranlaßt wird, Ungehöriges zu tun. Sie trödelt hinterher, noch schmollend, aber bevor sie gemeinsam ins Dorf gelangen, ist alles wieder in Ordnung, man überwindet sich und vergißt.
     Aber sie wurde nie ausgezählt, deshalb wußte sie nicht, wie es war, wenn man in der Mitte lag und sein Gewicht verlor. Sie stellte es sich vor wie einen Schlaf. Schlaf ist selten nur ein dunkles Nichts, meistens tut sich allerhand im Schlaf, aber anderes als im Wachen. Unglaubliche Dinge werden ganz natürlich, und die Zeit hüpft und schlägt Purzelbäume.Vielleicht hat man dann ein Wissen, das zu nichts nutze ist, das niemand braucht.Vielleicht verhält sich der von außen aus dem Kreis betrachtete Körper, der sich auf den Fingerspitzen weniger Mädchen tragen läßt, vollkommen normal und steht in keinem Widerspruch zu irgend etwas. Es ist wie mit diesem Leichenatem, unmöglich und trotzdem irgendwie sinnvoll. Sie fühlt jetzt wieder das Gewicht auf den Fingern, dieses Gewicht, das seiner selbst zu spotten scheint, Schwere und Leichtigkeit zugleich.


AM MORGEN erwacht sie schlagartig, plötzlich - sie öffnet die Augen und sieht das graue Licht, in dem die Nähte und Falten der Decke zu einer einförmigen, matt glänzenden Oberfläche verschwimmen.
     Sie hört eine Tür zuschlagen, das Dröhnen eines mühsam anspringenden Dieselmotors. Der Anlasser röchelt lange, dann verstummt er. Das wiederholt sich mehrere Male, schließlich - zu ihrer Erleichterung - springt der Motor an, und das Brummen entfernt sich langsam.
     Nach dem Aufwachen horcht sie immer auf ihren Herzschlag, ob alles in Ordnung ist, ob es schlägt und wie es schlägt. Sie tastet ihren Körper ab, ob er nicht durch irgendeinen Zufall über Nacht auseinandergebrochen ist, aber jetzt, so unbeweglich auf dem Rücken liegend, fühlt sie sich so wohl, daß sie nicht einmal die Hand hebt, um sie auf die Brust zu legen. Der Anblick der gleichförmigen Oberfläche der Zimmerdecke beruhigt sie, ihre Hände schlafen noch auf dem rauhen, gestärkten Laken. Sie erinnert sich wieder.
     Sie heißt Ida Marzec.Vierundfünfzig Jahre alt. Gemeldet in Warschau, Adam-Plug-Straße 89, Wohnung 21. Sozialversicherungsnummer 50012926704. Gott sei Dank.
     Die Tür quietscht leise, und sie hört kurze klackende Schritte, wie das Ticken einer Uhr. Sie hält die Augen geschlossen und spürt einen warmen Atemhauch im Gesicht. Es ist der weiße Hund, das weiß sie. Sicher betrachtet er sie, und sein Atem streift dabei ihre Wange. Sie reagiert nicht, und der Hund geht leise davon. Sie bleibt noch eine Weile liegen, langsam fällt ihr wieder ein, wo sie sich befindet. Sie stellt fest, daß sie in Strumpfhose und Bluse geschlafen hat, ihr Rock liegt auf dem Boden. Der Anblick dieses Rocks aus dicker grauer Wolle, ein teurer, schräg geschnittener Rock, der modisch ist und schlank wirken läßt, weckt eine vage unangenehme Erinnerung, ein Gedanke will sich ihr in den Kopf drängen, sie wehrt sich dagegen, schiebt ihn fort und unterdrückt ihn.
     Vor dem Haus sitzen ihre Eltern. Der Vater wickelt Garnknäuel auf und schaut sie nicht an. Die Mutter ist jung, sie erinnert an Maja, sie ist wie die erwachsene, fremde, stets abwesende Maja. "Du kommst nie zu uns, wir haben dich schon fast vergessen", sagt die Mutter vorwurfsvoll. Dann steht sie beleidigt auf und geht ins Haus. Sie geht hinter ihr her, schaut auf ihren Rücken, aber sie hat das Gefühl, daß die Mutter ihr ausweichen will. Sie geht hin und her durch die Zimmer, die unvermittelt zu einer endlosen Flucht werden. Sie bekommt Angst, weil ihr plötzlich einfällt, daß sie Maja, ihre kleine Tochter, draußen vor dem Haus gelassen hat. Sie will zurückgehen, aus diesem Labyrinth herausfinden, aber sie weiß nicht wie. Alles wird hellblau.


2

Sie hört die Tür quietschen, Flüstern, dann eine leise, an den Hund gerichtete Rüge: "Hier darfst du nicht rein, geh nach unten!" Jemand nähert sich behutsam ihrem Bett und setzt sich auf die Kante. Ihr bleibt nichts anderes übrig, sie muß die Augen öffnen.
     An der Tür steht ein Mann. Auf seinem Gesicht liegt ein Ausdruck trauriger Besorgtheit. Olga - sie ist es, die sich auf die Bettkante gesetzt hat - lächelt, ihr Gesicht ist klein, braungebrannt, runzlig, es hat etwas beunruhigend Asymmetrisches an sich.
     "Den ganzen Tag hast du geschlafen, Kind, jetzt wird es dunkel, und Adrian muß fort, aber er möchte dich gern untersuchen. Vielleicht hast du etwas gebrochen. Dann müßten wir nämlich einen Arzt rufen, Adrian ist
Tierarzt. Aber das ist ja egal ? Darf er hereinkommen?" Ohne eine Antwort abzuwarten, ruft sie: "Komm rein, Ad."
     Ein junger Mann tritt ein, blond, mittelgroß, ein wenig verschwitzt, als hätte er sich beeilt oder wäre die Treppe hinaufgelaufen. Ungefähr in Majas Alter, um die Dreißig. Er trägt einen dicken Pullover aus blauweiß melierter Wolle. Seine hellen Haare sind schon merklich gelichtet, sie kleben ihm an der Stirn. Er lächelt verlegen, niemandem ähnlich, fremd. Jung. Er sieht sie ruhig an, lächelnd, forschend. Dann betrachtet er fachmännisch ihre Augen und Unterlider, bewegt ihre Hände, betastet ihren Bauch. Er bittet sie, sich aufzusetzen und die Beine zu bewegen. Mit den Augen seinem Finger zu folgen. Ida fühlt sich von der Untersuchung eingeschüchtert, wie immer, alle Ärzte sind junge Männer, die fremdestmöglichen Wesen.
     "Ihnen scheint nichts zu fehlen", sagt der Tierarzt schließlich, er hat eine hohe Stimme. "Sie haben einen Schrecken bekommen, nicht wahr? Stehen Sie nicht auf, bleiben Sie liegen."
     "Ich weiß nicht so recht, wie ich mich fühle. Nicht wohl."
     "Sicher, das ist nicht verwunderlich, das kommt von der Anspannung, es geht von selbst wieder vorüber."
     "Ich würde gern die Polizei anrufen, das Auto ist geliehen."
     "Ja, das muß man erledigen.Vielleicht morgen?"
     "Heute nicht? Das Auto muß herausgezogen werden."
     "Heute ist es schon zu spät. Außerdem schneit es die ganze Zeit. Es ist doch nicht so dringend, oder? Morgen bin ich auch hier. Und übermorgen auch."
     "Aber ich bin hier nur auf der Durchreise."
     "Selbstverständlich."
     Der Mann sieht sie lächelnd an, wie ein Kind, mit dem man Doktor spielt.Als glaubte er ihr nicht. Er verneigt sich scherzhaft zum Abschied und geht eilig hinaus. Energisch läuft er die Treppe hinunter, noch draußen hört man seine Schritte, dazu das Knirschen von Schnee, dann das Röcheln des Dieselmotors. Beim dritten Anlauf springt das Auto an. Olga gibt ihr einen alten karierten Morgenmantel, und sie gehen in die Küche hinunter.
     "Er ist Tierarzt", sagt Olga, während sie ihr einen Becher heiße Milch vorsetzt und mit offensichtlichem Genuß Honig hineingibt. "In der Stadt hat er eine Praxis. Hast du Kinder, Familie?"

Mit freundlicher Genehmigung der Deutschen Verlags-Anstalt

Informationen zum Buch und zur Autorin hier