9punkt - Die Debattenrundschau
Die Linie Machiavelli-Spinoza-Marx
Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
Europa
Ideen
Masha Gessen hat ihre Dankesrede für den Hannah-Arendt-Preis aus aktuellem Anlass umgeschrieben, berichtet Benno Schirrmeister in der taz. Es ging nun darum, "dass es falsch ist, den Vergleich von Äpfeln und Birnen (im amerikanischen Original natürlich Orangen) zu verbieten, weil nur so die Erkenntnis von Unterschieden möglich sei. ... Und auch darüber, warum sie es für notwendig gehalten hatte, in einem Essay im New Yorker Magazine am 9. Dezember die Lage im Gaza-Streifen mit der in den Zwangsghettos ausdrücklich gleichzusetzen." So richtig überzeugt hat sie Schirrmeister nicht: "Wahr ist: Um die Wesensgleichheit von Zwangsgetto und Palästinensergebieten zu behaupten, muss alles, was sie ausmacht - die extreme Enge, die Funktion, Vorposten der Vernichtung zu sein, und auf der anderen Seite die Raketenangriffe aus Gaza -, zu Nebensächlichkeiten erklärt werden. Das tut Gessen, offenbar um den Mangel ihres Arguments zu überspielen, beim Festvortrag mithilfe eines Herrenwitzes. ... Und als am Ende der Veranstaltung Arendt-Preisrichter Klaus Wolschner, Ex-taz-Redakteur, darauf drängt, doch auch etwas zur Rolle der Hamas zu sagen, reagiert Gessen unwillig. Und ebenso wollen Teile des Publikums lieber glauben, schon die Wahrheit zu wissen. Politische Diskussion findet nicht statt."
In der NZZ erklärt die Wiener Russlandexpertin Anna Schor-Tschudnowskaja den Begriff des "Homo postsovieticus", den der russische Soziologe Lew Gudkow in Anlehnung an Soziologen Juri Lewada entwickelt hat und auf die aktuelle russische Gesellschaft bezieht. "Gudkow attestiert diesem neuen Menschen noch mehr Zynismus als dem im utopischen Rausch sozialisierten Homo sovieticus... Individuelles Überleben und Fortkommen ist dann nur möglich, wenn man nicht einfach ein Opportunist ist, sondern grundsätzlich an keine standfesten Werte und wahren Überzeugungen glaubt. Menschen sind in ihrem Handeln gezwungen, sich an die repressive Herrschaftssituation anzupassen und die Vorstellung von individueller normativer Integrität und wertebasierter Autonomie fallenzulassen; öffentliches Handeln kann dann gänzlich dem privaten widersprechen, die Idee einer Verantwortungsethik ist in diesem Falle nicht möglich. "
In der taz würdigt Andreas Fanizadeh in einem Nachruf den italienischen Philosophen Antonio Negri als temperamentvollen Vertreter einer undogmatischen Linken: "Mitunter konnten seine Auftritte dabei eine durchaus dramatische Wendung bekommen. Es war 2004, als Toni Negri am Schauspielhaus Zürich auf einer Veranstaltung sprach, die ich moderierte. Teile der Autonomen-Szene aus dem Umfeld der Roten Fabrik warfen uns 'Ausverkauf' vor. Wir saßen tatsächlich vor ausverkauftem Saal auf der Bühne im Schiffbau des Schauspielhauses. Negri - ein Leben lang dem Gedanken nach einem autonomen Leben in Menschenwürde, sozialer Gerechtigkeit, Egalität und Freiheit verpflichtet - brachten die eindimensionalen Polemiken gegen ihn zur Weißglut. Die hinter Masken verborgenen anonymen Zwischenrufer schienen auf ihn herausfordernd und darin anregend zu wirken. Sofort verließ er seine Vortragsroutine. Jetzt ging es um etwas. Und Negri hielt es nicht mehr auf seinem Stuhl. ... einmal in Rage geredet, war der Philosoph ein Ereignis. Dann war Negri schlicht furios, wusste, wie er den Saal einfing, war witzig, scharf, eine authentische und integre Persönlichkeit. Er schien in völliger existenzieller Übereinstimmung mit dem zu sein, was er sagte und einforderte."
In der FAZ erklärt Christian Geyer: "In seinem 1982 bei Wagenbach auch auf deutsch publizierten Gefängniswerk spannt Negri die Linie Machiavelli-Spinoza-Marx. Als ein 'armes Doktorlein' wolle er zu den revolutionären Möglichkeiten der nicht-idealistischen Vernunft 'einen wahren Meister' befragen, so der Autor als einer den Ton setzenden Vorkämpfer des im industriellen Norditalien gegen ausbeuterische Verhältnisse der Fabrikarbeit gerichteten 'Operaismo'. Die Bestreikung von Automobilfabriken, dieser operative, immer weitere Branchen erfassende Protest, geschah im Zeichen des von Negri so genannten gesellschaftlichen Arbeiters. Der rabiaten, subversiv entgrenzten, jedenfalls nicht staatskommunistisch oder gewerkschaftlich gezähmten neomarxistischen Bewegung ging es um die biopolitisch geöffnete Subjektivität der Arbeiter von den Wohnverhältnissen bis zur Krankenpflege." In der SZ schreibt Willi Winkler den Nachruf auf Negri und erinnert sich an einen Philosophen, "der das Glück hatte, Ideologe und auch noch Träumer, Kommunist und trotzdem Romantiker zu sein".